Zeit, Geschichte zu schreiben!

Zeit, Geschichte zu schreiben!

Heute ist es wieder soweit: Der FC St. Pauli empfängt den Hamburger SV zur 106. Stadtmeisterschaft. Fand dieses Derby jahrzehntelang nur sporadisch statt, treffen sich beide Klubs nun zum siebten Mal innerhalb der letzten drei Jahre. Vertreibt Euch die Zeit bis zum Anpfiff mit ein paar Erinnerungen an großartige Momente der letzten Jahre.
(Titelbild: Stefan Groenveld)

Nicht selten wird im Vorfeld viel über große Spiele geschrieben und noch viel mehr Spannung, Klasse und Dramatik herbeigesehnt. Nicht selten sind die Spiele selbst dann eher von Risikoarmut und einer Art lähmenden Lethargie geprägt. Sollte das der Fall sein, dann sollte einer unserer Kicker in Braun-Weiß einfach mal sein Herz in beide Hände nehmen und es in den einen Schuss legen.
So wie Fabian Boll es im September 2010 tat: In einem Derby, was Außenstehende als totlangweilig empfanden war er es, der sich spät in der 2.Halbzeit ein Herz nahm und den Ball vor der Südkurve im HSV-Tor versenkte. Petric erzielte kurz vor Schluss zwar noch den Ausgleich, aber die Erinnerung an den Moment der Führung, die Implosion der Gegengerade, die kann mir niemand mehr nehmen.

Schieß doch, Bulle! – Fabian Boll trifft am 19.09.2010 zum 1:0 gegen den HSV.
(Ulmer/imago images/via OneFootball)

In der Saison 2010/2011 waren die Rollen noch deutlich klarer verteilt, als sie es heute sind: Im Rückspiel war der HSV der haushohe Favorit. Aber der FC St.Pauli zeigte an diesem Abend in der Arena der Tausend Namen, was ein Team mit Herz, Willen und Leidenschaft erreichen kann: Bereits die Tatsache, das der Ball ins Toraus trudelte und daraus eine Ecke resultierte, wurde im Gästeblock bejubelt als wäre ein Siegtor in der Nachspielzeit gefallen. Es folgte eine zu kurze Ecke an den ersten Pfosten, die an den zweiten verlängert wurde. Dort drückte Gerald Asamoah den Ball und gleich noch Gegenspieler Ze Roberto über die Linie und ließ den Volkspark verstummen. Abgesehen vom Gästeblock, der von der Feierei des Eckballs gleich in eine nicht enden wollende Jubel-Arie überging, die erst mit Abpfiff beendet wurde (leider jedoch ohne einen Teil der Fans, die aus Protest gegen einen völlig überzogenen Polizei-Einsatz schon lange vorher das Stadion verließen). Der erste Derbysieg nach mehr als 30 Jahren. Der FC St. Pauli verließ die 1.Liga nach nur einem Jahr, nahm den Stadtmeister-Titel aber mit.

Keine Frage: Das Tor von Gerald Asamoah zum Derbysieg ist eines der größten der FCSP-Geschichte.
(imago images/via OneFootball)

Die Jahre vergingen. Der Hamburger begab sich mit massiver Arroganz und überhöhten Erwartungen in eine einzigartige Abwärtsspirale und fand sich 2018 in der 2.Liga wieder. Nachdem der Titel im ersten Spiel in der zweiten Liga noch verteidigt werden konnte, gab es im Rückspiel eine, ja, da müssen wir ehrlich sein, äußerst empfindliche Niederlage.
Doch im Spätsommer 2019 hatten die Spieler des FC St. Pauli die Chance zur Wiedergutmachung, da der HSV seinen Sieg teuer bezahlte, mit dem Derbyfluch belegt wurde und wieder der eigenen Erwartung auch im Jahr darauf in der 2.Liga spielte. Im Vorfeld des Spiels ging es komischerweise ziemlich ruhig zu. Doch das Derbyfieber setzte bei vielen spätestens in der 18.Minute ein: Selten ist der Rasen am Millerntor einem Spieler so nahe gekommen, wie Dimitrios Diamantakos als er den Ball per Kopf von der Grasnarbe ins HSV-Tor köpfte. Dieses Tor führte bei dem einen oder der anderen zum Einsetzen der Derbyfieber-Symptome, wie im damaligen Spielbericht beschrieben „Zack, Puls bei 180, spontaner Schweißausbruch bis Spielende, flache Atmung, nur noch stammelnde Kommunikation mit den Nebenleuten. Da war es dann also doch noch, das Derbyfieber.

Ein Gesamtkunstwerk – mit Rick van Drongelen und Dimitrios Diamantakos.
(c) Stefan Groenveld

Auch beim ersten Tor in diesem Spiel nicht unbeteiligt, folgte beim 2-0 der große Auftritt vom wohl prägendsten Spieler der vergangenen Stadtmeisterschaften: Rick van Drongelen
Ja, das war genau die 62.Minute als van Drongelen den eigentlich guten, aber von Knoll technisch schlampigen Freistoß-Trick galant ins eigene Tor abfälschte. Einfach nur wunderschön wie der Ball ganz langsam, mit aller Ruhe in Richtung Torlinie hoppelte. Kein Torwart, kein Spieler, nix mehr im Weg, nur noch etwas Grün und weiße Farbe trennen ihn vom Netz. Hoppel… hoppel… hoppelhoppel……. – BÄM!
Rick van Drongelen ist inzwischen weg, die Erinnerung aber bleibt. Und die ist großartig!

Freistoß, Knoll Hack irgendwie, vanDingelongDingdong – 2:0!
(imago images/via OneFootball)

Im Gegensatz zum Spiel im Spätsommer, war es im Rückspiel der HSV, der in der ersten Viertelstunde ein wahres Feuerwerk entfachte und einige Chancen hatte. Bis sich Ryō Miyaichi lebensmüde in einen Diagonalball warf, der zu Henk Veerman kullerte. Der nahm ihn auf, ließ einen gewissen RvD mit einer staksigen Körpertäuschung auf den Rasen liegen und lupfte den Ball tief ins Braun-Weiße Herz.
Der Gästeblock implodierte von einem auf den anderen Moment, erlebte die völlige Ekstase, Schockwellen durchfuhren ihn, Menschen darin spürten nach Jahren wieder, dass sie kein metallener Haufen sondern ein Ding mit Gefühlen sind. Wie Henk sich nach seinem Tor mit ausgebreiteten Armen vor die tobende Masse stellt… magisch.

Komm in unsere Arme, Henk!
(imago images/via OneFootball)

Während die tobende Masse gerade dabei war zu realisieren, was an diesem verregneten Tag im Volkspark für den FC St. Pauli möglich ist, war es ein gewisser Matt Penney, der sich ein Herz fasste und seine bis dahin eher unglückliche Liason mit dem FC St. Pauli auf eine neue Beziehungsebene hievte, indem er den HSV mit seinem Tor SchachMatt setzte. Sicher hat jedes Derbytor einen ganz besonderen Stellenwert. Das Tor von Penney dürfte eines der schönsten gewesen sein.

Ein Torschuss für die Ewigkeit: Matt Penney erzielt das 2-0 im Volkspark
(imago images/via OneFootball)

Kurze Zeit nachdem wir im Gästeblock eines der größten Feste der jüngsten Vereinsgeschichte feierten, veränderte die Pandemie alles. Knapp ein halbes Jahr später war das eh schon potthässliche Volksparkstadion mit nur wenigen Zuschauern gefüllt. Das hielt Rodrigo Zalazar aber nicht davon ab Mitte der ersten Halbzeit ein ganz fettes Ausrufezeichen zu setzen.

Erstes Derby, Anfangsphase – Aufregung? Nicht mit Rodrigo Zalazar!
(c) Peter Böhmer

Für viele, auch für mich, wurde das erste Stadtderby unter Pandemie-Bedingungen eher unterkühlt wahrgenommen. Doch so unwichtig war es mir dann doch nicht, wie ich in der 82.Minute merkte. Als Simon Makienok den Ball irgendwie ins Tor piekte, schrie ich einmal kurz den ganzen Wohnblock zusammen. Der HSV konnte zwar noch ausgleichen, der Titel des Stadtmeisters blieb jedoch in Reihen des FC St. Pauli.

Simon Makienok füllte das ein oder andere Wohnzimmer für einen kurzen Moment mit 120 Dezibel.
(imago images/via OneFootball)

Es folgte das Rückspiel. Das erste Derby am Millerntor unter Pandemie-Bedingungen. Kurz vor Anpfiff gab es ein eindrucksvolles Feuerwerk rund um das Stadion. Ein eindrucksvolles Feuerwerk zeigte auch der FC St. Pauli: Das 105. Stadtderby wurde in bisher ungesehener Art und Weise dominiert, spätestens ab Mitte der ersten Hälfte erspielte sich das Team Chance um Chance. Den verdienten Lohn gab es aber erst kurz vor Abpfiff: Ein unwiderstehliches Dribbliung von Rodrigo Zalazar, die Ablage von Luca Zander unter gütiger Mithilfe eines HSV-Beins, der im Raum eingefrorene Rick van Drongelen und der Hammer von Daniel-Kofi Kyereh – 88.Minute, 1:0! Der FC St. Pauli ist und bleibt Stadtmeister!

Was für ein Hammer von Daniel-Kofi Kyereh!
(imago images/via OneFootball)

Heute Abend gibt es für die Spieler auf dem Platz wieder die Möglichkeit ein Teil der Derby-Geschichte zu werden.
Macht es mit der Leidenschaft von Fabian Boll!
Macht es mit der Wucht von Gerald Asamoah!
Macht es mit dem Willen von Dimitrios Diamantakos!
Macht es mit dem Mut vom Henk Veerman!
Macht es mit der Selbstverständlichkeit von Matt Penney!
Macht es mit der Unbekümmertheit von Rodrigo Zalazar!
Macht es mit der Cleverness von Simon Makienok!
Macht es mit der Power von Daniel-Kofi Kyereh!

Hamburg ist und bleibt Braun-Weiß!

Forza St. Pauli!

//Tim

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6 thoughts on “Zeit, Geschichte zu schreiben!

  1. Gänsehaut! Gerade die letzten Zeilen! Kann das jemand bitte an Schulle weiterleiten, damit er das in seine Kabinenansprache vor dem Spiel mit einbauen kann?

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