Buchrezension: „71/72 – Die Saison der Träumer“

Buchrezension: „71/72 – Die Saison der Träumer“

Ein Buch, bei deren Einordnung sich fast automatisch Fragen ergeben. Ist es eine Biographie, wenn ja von wem? Ist es eine historische Aufarbeitung – wenn ja, von was? Aber die entscheidende Frage sollte bei einem Buch ja immer sein: Will ich das lesen? Und zumindest diese kann ich für Euch schon vorab beantworten: Ja, wollt Ihr. Alle.

Beginnen wir mit einer Frage, die im Epilog des Buches beantwortet wird: Was haben Rio Reiser und Stan Libuda gemeinsam?
Antwort: Beide starben innerhalb weniger Tage im August 1996, selbstverständlich unabhängig voneinander und räumlich sehr weit getrennt.
Aber darüber hinaus sind sie beide quasi die Protagonisten, im Buch „71/72 – Die Saison der Träumer“ von Bernd-M. Beyer aus dem Verlag DIE WERKSTATT.
Ist es nun eine Biographie? Nein, eher nicht, anders als bei Beyers vorherigem Buch über Helmut Schön. Auch wenn Reiser und Libuda immer wieder vorkommen und zentrale Handlungsfiguren sind, so ist es eben doch nur etwa ein Jahr in ihrem Leben, wenn auch ein sicher sehr prägendes.
Ist es eine historische Aufarbeitung? Puh… ja, schon eher. Von was? Zunächst einmal vom „Bundesliga-Skandal“, der im Sommer 1971 von Kickers Offenbach-Präsident Horst-Gregorio Canellas öffentlich gemacht wird, indem er Tonaufnahmen von Spielverschiebungen in der abgelaufenen Saison veröffentlicht. Dieser bildet den roten Faden des Buches, welches anschließend die Bundesliga-Saison 71/72 erzählt – und zwar Spieltag für Spieltag.

Aber eben nicht nur. Es mag durchaus ungewöhnlich sein, bei einer Buchrezension auf einen Podcast zu verweisen, aber gerade hier drängt sich der Vergleich nahezu auf: „11 Leben“ von Max-Jakob Ost ist ein Podcast über das Leben von Uli Hoeneß. Ich bin Fan seit der ersten Folge, obwohl ich mit Uli Hoeneß nun wirklich nicht viel anfangen kann. Aber in diesem Podcast wird eben auf die komplette Karriere des Uli H. geschaut – und darüber hinaus. Welche Entwicklungen im Profifußball hat er seit Anfang der 70er mit verfolgen dürfen, welche Entwicklungen hat er auch maßgeblich mit beeinflusst und was passierte Abseits des Fußballs, was aber eben dann doch auch immer Einfluss auf ihn hatte?

Und ähnlich verhält es sich mit diesem Buch bzw. dieser Saison. Sie alleine hat im Sportlichen schon genug Geschichten, mit denen man ein Buch füllen könnte – und viele davon habe ich schon mal am Rande mitbekommen, obwohl ich erst 1976 geboren wurde. Der Büchsenwurf bei Gladbachs Europapokalspiel gegen Inter Mailand. Jener Uli Hoeneß auf dem Weg zum Profi, der aber unbedingt noch vorher an Olympia teilnehmen will und deswegen noch keinen Profivertrag unterschreiben darf. Eine Schalker Elf, die die Massen in der Glückauf-Kampfbahn begeistert und aus 17 Heimspielen 16 Siege und ein Unentschieden einfährt – und am Ende doch nur Vizemeister wird. Die Bremer „Millionenelf“ mit sechs Trainern in einer Saison, die 40 Tore von Gerd Müller. Ein Zuschauerschnitt der gesamten Liga für den sich heute manch Drittligist schämen würde und ein Pokalfinale am 1.Juli, für das dann die teils am 30.Juni auslaufenden Spielerverträge noch um einen Tag verlängert werden mussten. Ein EM-Halbfinale mit deutscher Beteiligung, welches um 20.00h begann und im TV erst gezeigt wurde, nachdem die Tagesschau endete – und vieles mehr.

Und darüber hinaus bettet das Buch diese Saison in den historischen Kontext ein.
Der Bundesliga-Skandal, der natürlich auch dadurch ermöglicht wurde, dass sehr hohe Summen im Umlauf waren und die Spieler offiziell noch (sehr niedrige) Gehaltsobergrenzen hatten.
Die RAF, die genau in dieser Zeit „Schwung“ aufnahm. Die Regierung um Willy Brandt, die Intrigen der CDU/CSU und ihre damalige Zusammenarbeit mit der NPD. Und eben Rio Reiser – oder genauer gesagt „Ton, Steine, Scherben“, die zum Symbol von Widerstand und Hausbesetzungen wurden, sich hier aber vielleicht in der Rolle auch gar nicht so wohl fühlten, wie man das im Nachgang gerne verklärt.

Ich schließe also mit zwei Empfehlungen: Abonniert „11 Leben“ und lest „71/72 – Die Saison der Träumer“. Mir hat beides viele Zusammenhänge aufgezeigt und insbesondere mit dem sehr kritischen Blick auf den Profifußball heutzutage sorgen beide für viele Aha-Momente. Das Buch aus dem Verlag DIE WERKSTATT könnt Ihr direkt beim Verlag bestellen oder im Buchladen Eures Vertrauens.

Am Mittwoch, 31.März, gibt es um 19.00h eine Online-Veranstaltung mit dem Autoren und mit Claudia Roth (B90/Grüne), ehemals Managerin der „Scherben“. Es wird live gestreamt, keine Anmeldung nötig. (Alle Infos: Litcam)
Bernd-M. Beyer, „71/72 – Die Saison der Träumer“, DIE WERKSTATT, 352 Seiten, Hardcover, ISBN 9783730705407
// Maik

Alle Beiträge beim MillernTon sind gratis. Wir freuen uns aber sehr, wenn Du uns unterstützt.

MillernTon auf BlueSky // Mastodon // Facebook // Instagram // Threads // WhatsApp // YouTube

Print Friendly, PDF & Email

2 thoughts on “Buchrezension: „71/72 – Die Saison der Träumer“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert