Was tun gegen enge Deckung im Mittelfeld?

Was tun gegen enge Deckung im Mittelfeld?

Die letzten Spiele des FC St. Pauli hatten eines gemeinsam: Die jeweiligen Gegner waren sehr gut auf die Mittelfeldraute des FCSP eingestellt und agierten sehr mannorientiert auf diese. Das führte dazu, dass der FCSP Probleme im Spielaufbau bekam. Was hat der FC St. Pauli versucht, um gegen diese Mannorientierung zu spielen? Und was war erfolgreich, was weniger?
(Titelbild: Peter Böhmer)

Viele Wege führen nach Rom, das ist klar. Es gibt natürlich unzählige Möglichkeiten, um sich Torchancen zu erspielen. Der FC St. Pauli hatte im ersten Viertel der Saison den Vorteil, dass viele Teams eher schleppend auf ihre Spielweise reagiert haben. Das hat sich inzwischen geändert. Sowohl beim Pokalspiel gegen Dresden, als auch beim Unentschieden in Bremen und nun zuletzt bei der krachenden Niederlage gegen Darmstadt, agierte der jeweilige Gegner stark mannorientiert.

Ist das System des FC St. Pauli nun also erfolgreich decodiert worden? Muss sich das Trainer-Team eine ganz neue Art und Weise des Offensivspiels überlegen, um wieder diese offensive Wucht der ersten Saisonspiele zu entfalten? Nein, nicht wirklich. Es sind aber sicher ein paar kleine Veränderungen nötig bzw. die Umsetzung der Vorhaben muss radikaler durchgesetzt werden. Ich liebe es, mir darüber Gedanken zu machen, wie ein Team mit taktischen Mitteln ein anderes knacken kann. Daher habe ich mich mal etwas eingehender damit befasst und dabei ganz grob drei Möglichkeiten zusammengefasst, um eine Mannorientierung im Mittelfeld zu bespielen (die Liste ist sicher nicht komplett und ich habe zur Vereinfachung ein paar Dinge idealisiert, aber wie gesagt: ich liebe es, mir über sowas Gedanken zu machen).

1. Überspielen

Es ist die wohl einfachste Variante. Wenn Du als Innenverteidiger den Ball hast und keiner deiner Mitspieler anspielbar ist, dann knallst Du die Kugel einfach nach vorne. Diese Art und Weise des Angriffsspiels war in der 2. Liga lange Zeit bei vielen Teams der Matchplan (die Anzahl dieser Teams ist geringer geworden, es wird wieder vermehrt Wert auf Ballbesitz gelegt). Aber natürlich sehen die Matchpläne ein sehr viel organisierteres Vorgehen beim langen Ball vor, als einfach den Ball nach vorne zu knallen. Vielmehr geht es um das richtige Timing bei diesen Bällen und die Positionierung der Mitspieler. Denn der Fokus liegt gar nicht so sehr darauf, dass das eigene Team den langen Ball direkt verarbeiten kann, es geht viel mehr darum, die zweiten Bälle zu gewinnen und darauf zu pressen. So müssen sich bei einem langen Ball einige Mitspieler um den Zielspieler herum positionieren. So etwas war auch mal der Matchplan beim FC St. Pauli: Zielgerichtet positioniert bei langen Bällen hatte man sich unter, wie könnte es anders sein, Markus Kauczinsiki (hier mal kurz vor der Derby-Niederlage beschrieben)

Aber auch Timo Schultz lässt das ab und an spielen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Spiel des FC St. Pauli in Bremen. Denn dort war das die Reaktion auf die mannorientierte und pressingintensive Spielweise der Bremer. Man kann den Kopf explodieren lassen, bei all den taktischen Möglichkeiten, die ein Fußballspiel bietet. Oder aber, man geht das auch mal ganz pragmatisch an, wie es Timo Schultz und sein Trainer-Team in Bremen taten: Werder Bremen spielte mit einer 3er-Kette in letzter Reihe. Marco Friedl war dort der zentrale Innenverteidiger. Nachdem der FC St. Pauli große Probleme in der ersten Halbzeit hatte, wurde Simon Makienok zur zweiten Halbzeit eingewechselt. Friedl ist 1,87m groß und nicht als Kopfballungeheuer bekannt, Makienok ist 14cm größer. Hier wurde ein Mismatch kreiert und auch bespielt. Der FC St. Pauli schlug in der zweiten Halbzeit viele lange Bälle auf Makienok und konnte sich so eine Menge Chancen erspielen.

Idealisierte Darstellung der Spielweise des FCSP in Bremen:
Langer Ball auf Simon Makienok, die Spieler rundherum pressen auf den zweiten Ball.

Aber diese Spielweise hat natürlich nicht nur Vorteile. Es ist eher eine „Exit-Strategie“, wenn gar nichts anderes mehr geht. Denn bei langen Bällen ist das Risiko enorm hoch, dass der Ball auch einfach ganz schnell wieder weg ist und überhaupt keine Gefahr entsteht. Von Spielkontrolle ist das weit entfernt und daher ist es wohl eher das letzte als das erste Mittel, um mit Problemen im eigenen Spielaufbau umzugehen.

2. Umspielen

Eine zweite Möglichkeit ist es, die Mannorientierung aktiv zu umgehen bzw. sich den Bewachern zu entziehen. So hat es der FC St. Pauli im Pokalspiel gegen Dynamo Dresden versucht. Teilweise ist das gelungen, teilweise nicht. Nicht gelungen ist es Daniel-Kofi Kyereh, dessen Bewacher Robin Becker ihm wirklich überall auf dem Platz folgte. Kyereh versuchte es auf der rechten und linken Außenbahn, aber auch dort war Becker nahe bei ihm.
Die Versuche sich der engen Bewachung zu entziehen, können aber auch erfolgreich sein: In der zweiten Halbzeit gegen Dresden kam Rico Benatelli ins Spiel und mit ihm veränderte sich die gesamte Struktur des Aufbauspiels. Denn Benatelli entzog sich der engen Bewachung im Deckungsschatten der beiden SGD-Stürmer und ließ sich nach links hinten fallen (oder zwischen beide Innenverteidiger). Das bot den Außenverteidigern die Möglichkeit weiter hoch zu schieben. Zudem öffnete es Räume in der Zentrale, der nun von den Achtern, in dem Fall Irvine und vor allem Hartel, genutzt werden konnte.

Idealisierte Darstellung der Spielweise des FCSP in Dresden:
Rico Benatelli verlässt die Sechser-Position im Spielaufbau, sodass die Außenverteidiger hochschieben können und sich den Achtern Räume bieten. Zudem kann das Aufbauspiel aus der Innenverteidigung druckvoller werden, da hier nun eine Überzahl entstanden ist.

Die enge Bewachung der Mittelfeldspieler, sie blieb gegen Dresden, abgesehen von Benatelli, zwar bestehen. Aber durch die hohen Außenspieler konnten nun viel eher direkte Verbindungen zu den Stürmern geschaffen werden. Das eng bewachte Zentrum konnte so umspielt werden.
Zudem bot sich den Innenverteidigern nun die Möglichkeit durch Andribbeln weiter nach vorne zu gelangen und dort die Räume zu erschließen, da nur zwei Stürmer eine 3er-Kette abzudecken versuchten. Durch dieses Andribbeln kann das Team in dem Bereich eine Überzahl-Situation erschaffen.

Der Raum, der sich durch Benatellis Positionsspiel bot, kann nun auch anders genutzt werden: Marcel Hartel z.B. bewegt sich immer gerne in den Sechser-Raum. Das konnte er gegen Dresden vermehrt, da Benatelli diesen verlassen hatte. Dadurch wurde sein Gegenspieler gezwungen zu entscheiden, ob er ihm folgt und seine Position damit verlässt oder ob er die Position hält. Wenn er sie verließ, öffnete sich unweigerlich der Halbraum, was definitiv nicht gut ist. Blieb er auf seiner Position, konnte Hartel ungestört in der Zentrale aufdrehen – auch nicht gut aus Dresdner Sicht.

Dynamo Dresden war im Pokalspiel dann gezwungen diese Mannorientierung weitestgehend aufzugeben (bis auf die Bewachung von Kyereh) und spielte fortan in einem 4-4-2 mit zwei Sechsern weiter. Besonders dieses Positionsspiel, also dass die zentralen Mittelfeldspieler ihre Positionen verlassen, ist eine der besten Möglichkeiten, um gegen Mannorientierung zu agieren. Denn die enge Bewachung wird umgangen oder die gegnerischen Spieler werden in Positionen gezwungen, in die sie besser nicht gehören, wenn sie nicht nur mannorientiert agieren, sondern auch als Team kompakt stehen wollen.

Falls ihr mal sehen wollt, wie sowas funktioniert, dürfte das kommende Spiel gegen Sandhausen ziemlich perfekt dafür sein. Schaut einfach mal was die Achter (Becker, Hartel, Irvine) machen, während die FCSP-Innenverteidiger im Ballbesitz sind, wie sie versuchen ihre Gegenspieler loszuwerden (wer sich beim FCSP ständig gut im Raum verhält und taktische Konzepte richtig stark umsetzt, ist übrigens Leart Paqarada). Häufig sind es kurze schnelle Läufe aus einer hohen Position in Richtung eigenes Tor. Ab und an versuchen die Achter auch den Gegenspieler abzuschütteln, indem man gemeinsam auf der gleichen Seite ist, den Raum also überlädt. Das bietet die Möglichkeit einer Überzahl im Halbraum, wenn die gegnerischen Spieler nicht mitgehen. Oder aber, und das ist für den nächsten Punkt entscheidend, sie öffnen damit den Halbraum von dem sich die Spieler entfernen.

Marcel Hartel muss sich nicht selten aus einer engen Bewachung lösen.
(c) Peter Böhmer

3. Mitspielen

In die Verlagerung kommen“ – Das ist etwas, was man zuletzt immer häufiger von Trainern hört. Mal hat es geklappt, mal nicht. Und beide Male wird es als Erklärung genutzt, um über Erfolg oder Misserfolg des eigenen Spiels zu reden. Aber was ist das eigentlich „in die Verlagerung kommen„?
Na klar, es geht darum die Seiten zu wechseln. Aber ein einfacher Diagonalball auf die andere Seite ist es natürlich nicht, es steckt mehr dahinter. Denn damit die Verlagerung auch erfolgreich ist und das eigene Team damit dem gegnerischen Tor kontrolliert näherkommen kann, muss vorher dieser Raum erst einmal erschaffen werden. Und hierbei spielt wieder die Mannorientierung des Gegners im Mittelfeld eine Rolle.

Idealisierte Darstellung der Spielweise des FC St. Pauli in Darmstadt:
Durch das Bespielen eines eigentlich toten Raums (linke Seite), werden die gegnerischen Spieler auf eine Seite gezogen, sodass sich auf der anderen Seite Raum öffnet.

Bei der krachenden Niederlage gegen Darmstadt 98 hat vieles nicht gut funktioniert und die Gründe dafür sind sicher nicht vorrangig im taktischen Bereich zu suchen. Denn Darmstadt hat eigentlich Räume geboten, weil sie woanders Räume verknappt haben. Verlagerte sich der Ballbesitz des FC St. Pauli auf die Außenverteidiger-Position, so ging Darmstadt ins konsequente Pressing. Das ist natürlich für das ballführende Team ein kritischer Moment und ein Ballverlust ist alles andere als wünschenswert. Trotzdem sind sie vom ballführenden Team nicht unerwünscht. Denn diese Momente bieten auch immer enorme Möglichkeiten. Denn wenn irgendwo auf dem Feld der Raum verknappt wird, dann wird er woanders größer. Gegen Darmstadt öffneten sich Räume, wenn sie ins Pressing einstiegen, da die offensiven Außen auf der ballfernen Seite immer mit auf die andere Seite schoben. Auf der ballfernen Seite öffnete sich immer ein großer Raum. Der wurde noch größer, da die Stürmer sich auf die Außenbahn bewegten und damit die gegnerischen Außenverteidiger gebunden haben. Dem FC St. Pauli gelang es in diesem Spiel jedoch nur selten, solche Verlagerungen auch zu spielen. Das ist aber natürlich auch bei dem massiven Druck echt ’ne Königsdisziplin, solche Verlagerungspässe zu spielen.

Aber wie wird der FC St. Pauli zum Beispiel gegen den SV Sandhausen versuchen gegen diese Mannorientierung zu spielen? Das habe ich Timo Schultz auf der PK vor dem Sandhausen-Spiel gefragt. Seine Antwort ist herrlich pragmatisch:

Man hat immer die Möglichkeit gewisse Bereiche zu überladen, gerade aus der letzten Linie heraus mit mutigem Andribbeln immer wieder Überzahl-Situationen herzustellen. (grinst) Und das beste Mittel gegen Mannorientierung ist, wenn man sich in seinem persönlichen Duell durchsetzt…

Timo Schultz zur Reaktion auf Mannorientierung im Mittelfeld.

Drei Spiele, drei verschiedene Herangehensweisen, um die enge Deckungsweise des Gegners zu überspielen, zu umspielen oder mitzuspielen. Zugegeben, alle drei Arten haben in diesen Spielen nur bedingt funktioniert. Besonders zuletzt gegen Darmstadt konnte das Team zwar ganz gut die erste Reihe überspielen, aber biss sich danach die Zähne aus. Gegen Dresden wurde zumindest die Spielkontrolle in der zweiten Halbzeit mehr und der FC St. Pauli ging dann letztlich auch verdient in Führung. Richtig gut hat die Umstellung gegen Bremen geklappt. Der FCSP war in der 2. Halbzeit dort das klar bessere Team.
Sollte man also immer lieber den langen Ball spielen? Nein, bitte nicht. Denn der Kampf um die zweiten Bälle bleibt eine Art Roulette auf dem Spielfeld. Das kann funktionieren oder eben nicht. Mehr Erfolg verspricht ein gut abgestimmtes Positionsspiel, bei dem die Achter Räume öffnen. Am vielversprechendsten, aber eben auch am schwersten sind die Verlagerungen. Wenn ein Team mit dem Gegnerdruck so gut klarkommt und sich regelmäßig aus diesem Druck befreien kann (auch dieses Wording hört man immer wieder von Trainern), dann bieten sich da enorme Räume und Torchancen sind fast vorprogrammiert.

Das Gute: Der FC St. Pauli kann all das spielen. Aber es funktioniert eben nicht immer. Für das Spiel mit einer Mittelfeldraute ist es enorm wichtig, dass die Spieler auf diesen Position über die technischen Fähigkeiten verfügen, sich aus engen Räumen zu befreien und über die spieltaktischen Fähigkeiten im richtigen Moment Räume zu erschaffen. Das sind Fähigkeiten, die beim FC St. Pauli definitiv vorhanden sind. Die drei schwierigen Spiele zeigen aber, dass diese Fähigkeiten auch immer abgerufen und auch immer teils radikal durchgezogen werden müssen.

//Tim

Alle Beiträge beim MillernTon sind gratis. Wir freuen uns aber sehr, wenn Du uns unterstützt.

MillernTon auf BlueSky // Mastodon // Facebook // Instagram // Threads // WhatsApp // YouTube

Print Friendly, PDF & Email

5 thoughts on “Was tun gegen enge Deckung im Mittelfeld?

  1. Vielen Dank für den Versuch, auch einen Taktik-Analphabeten wie mich weiterzubilden.
    Ich habe eine Frage zu den Grafikbeispielen aus dem Darmstadt-Spiel: Der Raum, der sich für Zander im zweiten Bild auftut, entsteht ja dadurch, dass Honsak weiter in die Mitte zu Irvine zieht, quasi als Kettenreaktion darauf, dass Kempe sich zu Amenyido orientiert. Soweit korrekt? Aber wodurch wird Kempe überhaupt zu diesem Positionswechsel gezwungen? Amenyido steht doch den beiden Darmstädter Innenverteidigern gegenüber. Da müsste doch eigentlich gar keiner hin, so rein zahlenmäßig.
    Und die ganz grundsätzliche Frage nach deiner Einschätzung: Haben die Spieler wirklich all diese Überlegungen im Spiel im Kopf und entscheiden ganz bewusst zwischen unterschiedlichen taktischen Varianten oder passiert sowas instinktiv, natürlich verstärkt durch das Einstudieren entsprechender Situationen im Training? Das ist so wahnsinnig komplex, da könnten sie doch gleich Schachspieler werden …

    1. Wie geschrieben, die Darstellung ist teilweise idealisiert. Aber Amenyido hat sich gegen Darmstadt auch gerne in den Zehner-Raum fallen lassen. Die Innenverteidiger ziehen da nicht unbedingt mit, da sie sonst Raum für Burgstaller/Kyereh zentral bieten.
      Ja, es ist so, wie du beschreibst. NAtürlich lernen die Spieler, wie man sowas am besten löst. Sie lernen es eben durch ständige Wiederholungen im Training, sodass es irgendwann eine fast instinktive Reaktion ist. Aber es gibt auch Spieler, die sowas klar im Blick haben und Räume und Situationen erkennen (Leart Paqarada ist darin richtig gut – der entscheidet nämlich häufig, ob in den Druck gespielt wird oder ob sie nochmal abbrechen und hinten rum spielen).

    2. @Faouzi

      Schachfigur schlägt Schachspieler

      Tipp: Falls du eine PS hast und Fifa zockst: Wähle mal statt der Tele-Ansicht
      (ist ja quasi die Gott-Perspektive von der Haupttribüne) bei den Game Settings
      die Einstellung „Pro“.
      Dazu solltest Du noch das Level der Cam senken, alles etwas heranzoomen
      und die Geschwindigkeit der Cam-Schnitte etwas erhöhen. Dann wirst Du
      ungefähr Fußball wie auf dem richtigen Fußballfeld spielen können. Alles aus
      der Ground-Level-End-to-End-Perspektive des ballführenden Spielers, der
      meistens auch nur recht kurze Zeitfenster für geplante oder auch instinktive
      Spielentscheidungen hat. So ähnlich wie ein Quarterback beim American Football
      etwa.
      Außerdem sehen dabei die Stadien – vom Rasen aus gesehen – perspektivisch
      viel, viel besser aus als in der Tele-Ansicht von weit oben..

  2. Ah! Dadurch, dass Amenyido sich von den Innenverteidigern wegbewegt, steht Darmstadt also vor der Frage, wer von den Mittelfeldspielern zu ihm geht, damit die Innenverteidiger auf ihren Positionen bleiben können. Das kann ich nachvollziehen. Tausend Dank!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert