Rautendämmerung beim FC St. Pauli

Rautendämmerung beim FC St. Pauli

Mit 3:0 gewinnt der FC St. Pauli zuhause gegen den 1. FC Magdeburg und spielte dabei die vielleicht überzeugendste Halbzeit des Jahres 2022. Das lag auch daran, dass der FCSP nicht nur personell besser zueinander zu finden scheint. Eine taktische Umstellung, die deutlichste seit Anfang 2021, sorgte für defensive Stabilität und offensive Variabilität.
(Foto: Peter Böhmer)

Nein, dies ist keine klassische Spiel-Analyse. Dafür ist das erfolgreiche Spiel gegen den 1. FC Magdeburg schon etwas zu weit weg (und wir haben dazu ja auch bereits was geschrieben). Trotzdem möchte ich noch einmal auf das Spiel zurückkommen. Denn der FC St. Pauli hat seine Formation deutlich verändert und ist auch deswegen erfolgreich gewesen.

Der Titel dieses Textes hat eine Historie: Er wurde von mir auch beim letzten Spiel des FC St. Pauli gegen den 1. FC Magdeburg verwendet. Damals, nach dem glücklichen 3:2-Erfolg in der ersten Pokalrunde, stellte sich schon einmal die Frage, ob die erfolgreiche Zeit der Mittelfeldraute beim FC St. Pauli nun ein Ende finden würde. Sie tat es nicht, der FCSP zog die Formation durch und der Erfolg in der Hinrunde gab ihm recht.

Nun wurde aber bereits in der Rückrunde der Vorsaison deutlich, dass dem FCSP leichte Anpassungen seiner Mittelfeldraute womöglich ganz guttun würden. Besonders zur neuen Saison hatte ich mit doch recht tiefgreifenden Veränderungen gerechnet. Denn der Abgang von Daniel-Kofi Kyereh ist auch weiterhin nicht zu ersetzen. Entsprechend kann auch seine Position, die Zehn in der Raute, nicht so gut ausgefüllt werden.

Zehner fehlt

Daher war durchaus damit zu rechnen, dass es Anpassungen der Raute geben würde. Ich habe vor der Saison mit einer Art 4-3-3 gerechnet. Einer Formation, die der Spielweise von Lukas Daschner eher gerecht wird. Mit zwei äußeren Offensivspielern, die stark ins Zentrum tendieren, hoch stehenden Außenverteidigern und ansonsten eher wenig Eingriffe in die Abläufe. Aber dieses 4-3-3 berücksichtigte nicht die defensiven Probleme, obwohl das ja die zentrale Thematik gewesen ist. Einmal mehr ein gutes Beispiel also, dass ich als Trainer recht schnell baden gehen würde.

In den ersten Spielen der neuen Saison war es dann jedoch wieder meist die Mittelfeldraute, die wir auf dem Platz sehen konnten. Die Veränderungen deuteten sich zwar immer mal wieder an, wie zum Beispiel beim Auftakt gegen den FCN oder bei der Niederlage in Kaiserslautern, aber erst jetzt gegen den FCM wurden sie das erste Mal vollumfänglich durchgezogen.
Der FC St. Pauli stellte sich in einem flachen 4-4-2 auf. Allerdings möchte ich das so auch wieder nicht ganz gelten lassen, denn die gezeigte Formation weist auch deutliche Merkmale eines 4-2-2-2 auf. Lukas Daschner und Marcel Hartel agierten dabei recht stark auf Außenpositionen, was besonders im Pressing deutlich wurde. Bei eigenem Ballbesitz ist die Formation dann etwas variabler in den vorderen Reihen, was sicher auch genauso gewünscht ist. Lukas Daschner genießt viele Freiheiten und bewegt sich meist auf die Zehnerposition, während Hartel seine Rolle etwas (aber wirklich nur etwas) defensiver interpretiert.

Aufstellung beim Spiel FC St. Pauli gegen den 1. FC Magdeburg
Das flache 4-4-2 des FC St. Pauli.
Lukas Daschner und Marcel Hartel besetzen im Defensivverhalten die äußeren Positionen im Mittelfeld. Dadurch hat der FCSP weniger das Problem auf den Außenbahnen in Unterzahl zu geraten. In der Offensive rückt dann Daschner eher auf die Zehner-Position und die beiden Außenverteidiger schieben weit hoch, was durch die Absicherung einer Doppelsechs möglich ist.

Was sind die Vorteile der veränderten Formation?

Um die Vorteile der neuen Formation herauszuarbeiten, muss man sich eigentlich nur den Nachteil der alten anschauen: Das 4-4-2 mit Raute ist auf den Außenbahnen unterbesetzt. Und genau dies wurde von vielen Teams immer wieder ausgenutzt. Das ist auch nichts, was sich immer mit guter Laufarbeit verhindern lässt. Gute Laufarbeit bzw. gutes Verschiebeverhalten führt sogar eher dazu, dass ein weiteres zentrales Problem des 4-4-2 mit Raute offensichtlich wurde.

Beim Spiel gegen den 1. FC Kaiserslautern lief vieles nicht optimal. Auch die Formation passte nicht so richtig gut gegen den destruktiven Fußball des FCK. Denn sie führte dazu, dass der eigentlich einzige offensive Plan des Heimteams aufging: Das Team von Dirk Schuster versuchte offensiv mit Überladungen auf den Außenbahnen zum Erfolg zu kommen. Allein schon damit hat der FCSP ein Problem, wenn er in der Raute nicht gut verschiebt. Noch größer ist es, wenn es den Gegnern dann noch gelingt das Spiel zu verlagern. Denn da der FCSP mit der Raute immer stark auf die ballnahe Außenbahn schob, wenn es defensiv notwendig war, blieb die andere Seite ziemlich verwaist. Konnte ein Team dann schnell auf die andere Seite kommen, war die Raute des FCSP etwas anfälliger und offener als viele andere Formationen.

So ist dann das 1:0 des FCK gegen den FC St. Pauli fast schon eine Blaupause dafür, wie man gegen ein Team mit Mittelfeldraute agieren kann (wenngleich die Defensivarbeit des FCSP in dieser Situation auch als maximal pomadig bezeichnet werden muss). Die Lösung dieses Problems, welches die Mittelfeldraute mit sich bringt, ist eine klarere und mehrfache Besetzung der Außenbahnen. Genau das wurde schon in der Rückrunde der Vorsaison ab und an probiert, aber die Abläufe, vor allem das Umschalten in Offensive und Defensive, waren nicht so richtig sattelfest.

Am vergangenen Wochenende gegen den FCM wurde die Formation dann so deutlich umgesetzt, wie bisher noch nie. Das war fast ein richtiger Bruch mit der Raute und auch einer mit dem Credo von Timo Schultz von der „Sicherheit des eigenen Systems“. Lange betonte er, dass es seinem Team guttun würde, wenn es nur in einem System spielt. Nun hat der FC St. Pauli sein Portfolio um eine Formation erweitert. Und sie hat richtig gut funktioniert.

Deutschland, Hamburg, 14.08.2022, Fussball 2. Bundesliga 4. Spieltag, FC St. Pauli - 1.FC Magdeburg im Millerntor-Stadion Trainer Timo Schultz (FC St. Pauli) gestikuliert
Timo Schultz und sein Trainerteam präsentierten beim Spiel gegen Magdeburg eine neue Formation.
(c) Peter Böhmer

Viele Spieler auf ihren besten Positionen

Wenn ich einen Spieler aus dem Kader der Vorsaison benennen müsste, zu dem ein Spielsystem mit einer Raute gar nicht passt, dann ist es sicher Maximilian Dittgen, der auf die offensive Außenbahn gehört, die es in St. Paulis 4-4-2 mit Raute aber nicht mehr gab. Knapp dahinter würde ich dann aber schon Jackson Irvine nennen, zu dem die Raute auch nicht so richtig gut passt. Irvine passt viel eher auf die Doppelsechs, wo er den offensiveren Part gibt, wie er sie im Nationalteam von Australien spielt. Genau diese Position gibt eine veränderte Formation mit einer Doppelsechs her, sie ist also maßgeschneidert für ihn. Und dabei müssen andere Spieler auch nur wenige Kompromisse eingehen. Denn das 4-4-2 (4-2-2-2) hat zwar Spieler, die etwas weiter außen orientiert sind, aber das ist noch weit weg davon, dass ich sie als „klassische“ offensive Außenbahnspieler bezeichnen würde. Entsprechend können Lukas Daschner und auch Marcel Hartel (der in jungen Jahren übrigens immer auf der Außenbahn spielte) diese Positionen spielen, ohne zu große Kompromisse mit ihrer Spielweise eingehen zu müssen.

Die veränderte Formation wird dem Kader aktuell also etwas gerechter als das 4-4-2 mit einer Mittelfeldraute. Gerade für Jackson Irvine passt es sogar viel besser, sie ist geradezu auf ihn zugeschnitten, an sein Spiel angepasst. Allein das ist schon Ausdruck der massiv gestiegenden Bedeutung von Irvine für das Spiel des FC St. Pauli. Ich bin aber trotzdem sicher, dass auch die Mittelfeldraute weiterhin Teil des FCSP-Spiels sein wird. Dann nämlich, wenn Gegner den Fokus eben nicht auf die Außenbahnen legen. So geschehen in der zweiten Halbzeit beim Spiel gegen den 1. FC Magdeburg.

Nach überlegenden ersten 45 Minuten, die nur wenig Zweifel an den Kräfteverhältnissen auf dem Platz ließen, tat sich der FCSP nach dem Wiederanpfiff gegen Magdeburg schwer. Auch deshalb, da der FCM sein Aufbauspiel umstellte: Im zweiten Abschnitt agierte das Team mit einer Doppelsechs im Aufbau und konnte so eine Überzahl im tiefen Mittelfeldzentrum generieren. Das wäre gegen den FCSP mit einer Mittelfeldraute nicht möglich gewesen, aber ist dann wohl die nächste Baustelle, die das Team zu bearbeiten hat, wenn es zukünftig häufiger mit neuer Formation ins Rennen geht.
Allerdings: Abgesehen von viel Ballbesitz konnte der FCM aus diesem zahlenmäßigen Vorteil im Sechserraum wenig machen. Das 4-4-2 ist einfach ein sehr kompaktes System. Keine andere Formation deckt mehr Raum auf dem Spielfeld ab und besonders im tiefen Pressing ist es ganz schwer zu knacken.

Deutschland, Hamburg, 14.08.2022, Fussball 2. Bundesliga 4. Spieltag, FC St. Pauli - 1.FC Magdeburg im Millerntor-Stadion - Marcel Hartel (FC St. Pauli) feiert sein Tor.
Taktisch im neuen Gewand und auch gleich torgefährlicher? Für Marcel Hartel ist die veränderte Rolle auf dem Spielfeld nicht neu.
(c) Peter Böhmer

Flexibilität ist notwendig

Was dem FC St. Pauli in der Situation in der zweiten Halbzeit womöglich geholfen hätte, wäre eine erneute Umstellung auf die Mittelfeldraute gewesen, was situativ sogar geschah und dazu führte, dass die Formationen eher zu einer Anreihung von Prinzipien verschwimmen. Das ist dann so etwas wie die bestmögliche Zukunft: Der FCSP ist situativ sehr klar in seiner Formation, aber bewahrt sich die taktische Flexibilität und kann während der Spiele immer wieder „switchen“ zwischen einem Fokus auf das Zentrum (4-4-2 mit Mittelfeldraute) und der Abdeckung der Außenbahnen (flaches 4-4-2 oder 4-2-2-2).

Ein Blick voraus dürfte bereits zeigen, wie wichtig die neue Flexibilität des FCSP sein dürfte: Mit Hansa Rostock wartet am Wochenende eines der taktisch flexibelsten Teams der Liga und in weniger als zwei Wochen kommt der SC Paderborn ans Millerntor, der aktuell zurecht auf der Spitzenposition in der 2. Bundesliga steht. Im Februar dieses Jahres, als der SCP am Millerntor zu Gast, hatte ich recht wehmütig auf die taktische Flexibiliät des Gegners geschaut. Der FCSP wird seinen verbesserten Werkzeugkasten also brauchen.

// Tim

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10 thoughts on “Rautendämmerung beim FC St. Pauli

  1. Auch wenn sich wegen der beiden Tore vieles auf Eggestein fokussierte am Wochenende, so war mein Gedanke eher, ob Paqarada wohl am 2. September noch Spieler des FC St. Pauli sein wird. Welcher Bundesligist Paqa Sonntag gesehen hat und nicht zumindest einmal nachfragen möchte, das wäre für mich doch ziemlich unverständlich. Unglaublich präzise Pässe, hinten nix anbrennen lassen, gute Flanken, selbst torgefährlich. Ein Linksverteidiger, wie man ihn sich wünscht. Hätte IMHO mindestens dieselbe (Kicker-) Note wie Eggestein verdient gehabt.

  2. Paqa? Völlig überschätzter krummfüßiger, verletzungsanfälliger, pomadiger Glückskicker. Außerdem noch viel zu jung für die 1.Liga. Vertrag verlängern und versuchen ihn besser zu machen, alles andere ist Quatsch.

  3. Ha! Da ist der ominöse breitziehende Zehner, wenn wir jetzt noch einen asymmetrischen Linksverteidiger hätten würde Robert Klauß vor Wut wieder ahnungslose Sportjournalisten genervt anpöbeln.

  4. A propos Noten, nach den ersten beiden Spieltagen gab es noch jeweils einen Artikel mit Einzelwertungen unserer Lieblinge. Ich fand das ganz spannend, kann aber auch verstehen, dass das alles irgendwann den Rahmen sprengt.
    Ansonsten: Vielen Dank an das mit weitem Abstand relevanteste Medium rund um den FC St. Pauli!

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