Der FC St. Pauli auf der Suche

Der FC St. Pauli auf der Suche

Sieben Punkte nach fünf Spielen, nur knapp im Pokal weitergekommen – der FC St. Pauli ist schleppend in die Saison gestartet. Dabei wurde offensichtlich, dass es dem Team nicht nur an einem erfahrenen Angreifer, sondern auch an einigen weiteren Dingen fehlt.
(Titelbild: Peter Böhmer)

Manch andere*r würde diesen Text vielleicht als „schonungslose Analyse“ teasern. Das ist er natürlich nicht. Ich versuche mich eher an einer Bestandsaufnahme und dabei richte ich den Blickwinkel auf die Sachen, die momentan nicht so gut laufen. Dabei ignoriere ich nicht, dass viele Dinge auf einem ganz anderen Level sind, als noch vor zwei Jahren. Der FC St. Pauli hat sich in Sachen Kader-Qualität enorm entwickelt. Aber es gibt auch einige Bereiche, in denen eine nachhaltige Entwicklung (noch) nicht so richtig zu erkennen ist.

Die Suche nach der Durchschlagskraft

Das ist ja fast schon die leichteste Übung auf die fehlende Durchschlagskraft zu kommen, wenn man die Liste von Problemen erstellt. Der Blick in die expected Goals nach fünf Spieltagen bestätigt den Eindruck, den viele während der FCSP-Spiele gewonnen haben: Dem FC St. Pauli fehlt es an Durchschlagskraft in der Offensive.

Eigene und gegnerische expected Goals-Werte nach fünf Spieltagen der Saison 22/23 (Daten: wyscout)

Nur vier Teams haben einen niedrigeren eigenen xG-Wert als der FC St. Pauli. Die Daten bestätigen also den Eindruck. Das bestätigt sich übrigens nicht in der Anzahl der Torabschlüsse: 13.6 sind es bisher diese Saison pro Spiel. 13.1 waren es in der Vorsaison. Trotzdem fehlt es an Durchschlagskraft, denn der aktuelle xG-Wert pro Spiel liegt bei 1.1. In der Vorsaison lag dieser Wert bei 1.6. Zudem schließt der FCSP zwar knapp häufiger ab, aber viel seltener finden die Bälle ihr Ziel: Rund 30% der Schüsse gehen aktuell auf das gegnerische Tor. Letzte Saison waren es fast 40%. Mehr Abschlüsse, trotzdem ein niedrigerer xG-Wert und eine geringere „auf das Tor“-Quote zeigen, dass der FCSP aus schlechteren Positionen den Abschluss sucht.

Die Daten zeigen also, dass es vorne noch etwas hakt, noch an Durchschlagskraft fehlt. Das betrifft natürlich nicht nur die Torschüsse. Es wäre hilfreich, wenn vorne noch ein Spieler ist, der Bälle halten kann oder auch andere Eigenschaften mitbringt. Vor der Saison haben Torjäger, Ziel- und Führungsspieler Guido Burgstaller, Wandspieler Simon Makienok, der tempoharte Maximilian Dittgen und der kreative und torgefährliche Daniel-Kofi Kyereh den Verein verlassen. Mit David Otto und Johannes Eggestein sind Spieler hinzugekommen, die definitiv auch Qualitäten mitbringen (und enormes Potenzial haben), aber dann doch nicht so klar in die verlorenen Profile passen. Dass mit Igor Matanović, Lukas Daschner und Etienne Amenyido (wenn er denn mal fit ist) drei Spieler häufig zur aktuellen Startelf zählen, die letzte Saison auf der Bank saßen, spricht für sich (auch wenn ich gerade im Fall von Daschner ergänzen möchte, dass er aufgrund seiner Qualitäten in der 2. Liga nicht auf die Bank gehört, die Rolle von Kyereh aber nicht vollumfänglich ausfüllen kann).

Die Suche nach der Sicherheit

Eine Statistik, die sich wirklich schlimm liest: 13 von 79. Seit Start der Saison 20/21 blieb der FC St. Pauli nur in 13 von 79 Spielen ohne Gegentreffer. Das ist, verglichen mit einer groben Rechnung des Liga-Durchschnitts (in den ersten 45 Spielen der Saison konnte 23mal zu Null gespielt werden), ein wirklich bedenklicher Wert.

Versucht wurde da bereits einiges, um die Gegentorflut beim FC St. Pauli in den Griff zu bekommen. Grundsätzlich finde ich es sehr richtig, dass der Fokus noch mehr auf der Offensive liegt, aber die vielen Gegentore machen es dann besonders schwierig, wenn es offensiv nicht so rund läuft. So wie es also aktuell der Fall ist. Zwar ist der FCSP offensiv ein Team, welches meist viel zu bieten hat, zu seinen Chancen kommt. Aber wenn das mal nicht der Fall ist, dann kann es sich auch nicht auf seine Defensivarbeit verlassen, so wie andere Teams es können.

David Nemeth und Jakov Medic (beide FC St. Pauli) diskutieren nach einem Gegentor durch Hansa Rostock.
Das aktuelle Innenverteidiger-Duo des FC St. Pauli, David Nemeth und Jakov Medić.
(c) Peter Böhmer

In der jetzigen Zusammensetzung der Innenverteidigung fehlt es sicher an (Zweitliga-)Erfahrung und das dürfte auch der erste Kritikpunkt sein. Aber als das Duo letztes Jahr aus Ziereis und Lawrence bestand hat das auch nicht sonderlich viel geholfen. Ich würde sogar behaupten, dass die jetzige Zusammensetzung mit etwas mehr Zeit die Wahrscheinlichkeit massiv erhöht, um auch häufiger mal die Null zu halten.
Zudem obliegt Defensivarbeit auch nicht allein den Innenverteidigern. Das Spiel gegen Hansa Rostock hat gezeigt, dass der FCSP insgesamt schwach verteidigt hat, defensiv besonders in der Rückverteidigung zu sorglos gearbeitet hat.

Diese Probleme sind nicht neu. Sie begleiten den FC St. Pauli schon eine ganze Weile. Das macht es vielleicht sogar noch etwas problematischer, denn Lösungen scheinen nicht so richtig gefunden worden zu sein. Was direkt zum nächsten Punkt führt.

Die Suche nach Antworten auf die Antworten

Es gab nämlich ein Phase, in der beim FC St. Pauli auch weit häufiger zu Null gespielt wurde als aktuell: Im Fußballjahr 2021 konnte das Team von 42 Spielen immerhin Zehn ohne Gegentreffer beenden. Das ist zumindest ein Wert mit dem man arbeiten kann (bedeutet auch: 2020 und 2022 gelang die Null in 37 Spielen nur dreimal…).

Das war die Zeit, als der FCSP mit seiner Anfang 2021 neu formierten Mittelfeldraute die gegnerischen Teams vor massive Probleme stellte. Der starke Fokus auf das Zentrum, mit viel rotierenden Bewegungen, war für die Gegner schwer zu verteidigen. Inzwischen haben sich aber Antworten auf diese Spielweise aufgetan. Und auf diese hat der FCSP bisher selbst noch keine nachhaltige Antwort gefunden.

Die Antwort der Gegner lautet seit etwas weniger als einem Jahr: Dreierkette. Ich komme mir manchmal etwas doof vor, wenn ich bei den Pressekonferenzen immer wieder nach gegnerischen Dreierketten frage. Aber es ist nun mal einfach so, dass der FC St. Pauli große Probleme hat, wenn der Gegner mit einer Dreierkette spielt. Ein Blick in die Statistik genügt:

Der FC St. Pauli gegen…ViererketteDreierkette
Sieg154
Unentschieden56
Niederlage66
Punkte gesamt5318
Punkte pro Spiel2.041.13
Spiele des FC St. Pauli gegen Vierer- bzw. Dreierketten seit Beginn der Saison 21/22.

Diese Problematik wurde bereits in der Vorsaison deutlich (hier der entsprechende Artikel). Seitdem, also in den letzten Spielen der letzten Saison und zum Saisonstart 22/23 ist es nicht besser geworden und z.B. Hansa Rostock knackte den FCSP auch aufgrund einer Dreierkette.

Dabei hat der FCSP durchaus reagiert in dieser Thematik. Es wurde teilweise auf ein flaches 4-4-2 umgestellt, damit die Zuordnung auf den Außenbahnen etwas klarer und das Team für gegnerische Ballverlagerungen nicht mehr so anfällig ist. Diese Umstellung scheint wichtig. Wie richtig sie im Saisonverlauf noch ist, wird sich zeigen. Bitter nötig ist eine Reaktion auf die gegnerischen Dreierketten in jedem Fall, wie die Statistik zeigt.

Ist die Mittelfeldraute beim FC St. Pauli also ein Auslaufmodell? Timo Schultz sagte auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Rostock, dass sie auch weiterhin die erste Wahl sein wird. Ob das dann wirklich so ist, bleibt abzuwarten. Denn es gibt einige weitere Teams, die inzwischen mit einer Dreierkette (nicht nur gegen den FCSP) agieren. Der SC Paderborn und Darmstadt 98 zum Beispiel, letzte Saison immer mit Viererkette unterwegs, haben ihre Formation umgestellt. Es dürfte also nicht einfacher werden für die Mittelfeldraute.

Vielleicht ist die Mittelfeldraute beim FC St. Pauli auch deshalb nicht mehr die beste Wahl, weil es eben nicht mehr die Spieler gibt, die so richtig perfekt da rein passen. Zum Ende der Saison 20/21, als der FCSP alle Gegner mit dieser Formation vor Probleme stellte, spielten Burgstaller und Marmoush im Angriff, Kyereh hinter den Spitzen, Becker und Zalazar auf den Halbpositionen. Das sind fünf Spieler, bei denen ich behaupten würde, dass die gewählte Formation mit Mittelfeldraute wie die Faust auf das Auge passt. Von diesen fünf Spielern ist aber keiner mehr da. Was überleitet zum nächsten Punkt.

Marcel Hartel (FC St. Pauli) beim Pokalspiel gegen den SV Straelen
Marcel Hartel ist zusammen mit Jackson Irvine auf der Acht gesetzt, wenn es um die Besetzung einer Mittelfeldraute geht.
(c) Peter Böhmer

Die Suche nach Druck auf dem Kessel

Der FC St. Pauli ist im Jahr 2021 auch deshalb so erfolgreich gewesen, weil die Formation sehr gut zum Kader passte, aber eben auch, weil im Kader eine Menge Spieler Druck gemacht haben, um ins Team zu kommen. Nun sind Marcel Hartel und Jackson Irvine auf der Acht gesetzt, wenn es um die Besetzung einer Mittelfeldraute geht. Carlo Boukhalfa und Connor Metcalfe spielen da (noch) keine ernsthafte Rolle, machen also wenig Druck. Letzte Saison hatten die beiden da mit Buchtmann und vor allem Becker noch wesentlich mehr Konkurrenz.

Gleiches gilt für die Situation im Angriff, wo es in der Vorsaison um die Position neben Burgstaller einen hochwertigen Konkurrenzkampf gab. Aktuell ist die Offensive personell eher unterbesetzt. Spieler können aber auch nur dann wirklich besser werden, wenn sie einen gewissen Leistungsdruck haben, wenn das Niveau im Training entsprechend hoch ist. Wie sich das Niveau verändert hat, wenn viele ehemalige Stammspieler den Verein verlassen haben und nun entwicklungsfähige Spieler dazugekommen sind, kann man sich vermutlich ausmalen. Klar, das Niveau im Kader ist sicher höher, als es noch vor zwei Jahren war. Aber auf einigen Positionen herrscht einfach sehr wenig Konkurrenzdruck.

Die Suche nach … ja, was eigentlich?

Na klar, der Wunsch nach einer Saison wie der letzten ist groß. Aber realistisch betrachtet ist das diese Saison einfach nicht möglich. Dafür hat der Kader zuviel Substanz verloren, die es jetzt erstmal wieder zu entwickeln gilt. Es wäre wohltuend gewesen, wenn das vor der Saison auch in dieser Deutlichkeit von Vereinsseite formuliert worden wäre. Das hätte Erwartungen runtergeschraubt und würde jetzt nicht zu dieser doch sehr unruhigen Gemengelage führen.

Vielleicht habe ich aber, wie vermutlich auch einige andere, diesen deutlichen Hinweis überhört oder überhören wollen. Klar ist jetzt, dass der FC St. Pauli in seiner aktuellen Form und aufgrund seiner aktuellen Probleme kein Team ist, was sich um den Aufstieg bewerben kann. Hier ein klares „Trust the process, denn wir wissen, was wir tun“ hätte vermutlich geholfen, um überzogene Erwartungen einiger einzufangen. Denn ein unruhiges, nörgelndes Umfeld ist nicht das, was ein Team in seiner Entwicklung gebrauchen kann. Ich hoffe sehr, dass es intern sehr viel ruhiger und mit realistischen Erwartungen zugeht. Dann ist mit diesem Kader voller Potenzial auch zukünftig viel möglich.
// Tim

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4 thoughts on “Der FC St. Pauli auf der Suche

  1. Was mich noch ein wenig umtreibt ist die nicht erwähnte 6er Position. Mit Aremu hatten wir eine sehr gute Hinserie, in der wir auch kompakter standen. Smith ist fussballerisch besser, aber in den Attributen rückwärts etwas anfälliger als der Aremu der Hinserie 2021/22. Mit der Doppelsechs wäre doch auch die Varinte bei nebeneinander einzusetzen, Irvine wieder auf die 8 und Daschner mir Eggestein im Sturm. Das wäre ein Versuch wert…..

  2. Wir sind seit circa 9 Monaten in einer Krise. Zum Glück nicht abstiegsgegährdet, aber wenn man sich vor Augen führt wo man herkommt (Herbstmeister) und wo man hin will (Top 25 in DE) ist das deutlich zu wenig.
    Und es sind seit 9 Monaten eigentlich die gleichen Probleme (3er Kette, kampfbetonte Spielweise der Gegner, tiefstehende Gegner) auf die immer noch keine Lösungen gefunden wurden.

    Das macht mich etwas ratlos und mich besorgt, dass das Trainerteam scheinbar auch ratlos ist..
    Timo, Loic und Fabian sind sehr talentierte Trainer, ich bin froh, dass wir sie haben und hoffe, dass das noch lange so bleibt. Aber die immer gleichen Probleme sorgen dafür, dass ich doch immer öfter deren Entscheidungen anzweifel – und das war vor einem Jahr undenkbar.
    Hoffentlich empfindet das Team da anders als ich..

  3. Die Geschichte mit dem Konkurrenzkampf ist m.M.n. erst einmal eine Bestandsaufnahme – mal schauen, wie es nach dem Schluss der Transferperiode wirklich aussieht (und um es klar zu sagen: kommt kein Neuner mehr, wäre ich arg enttäuscht).

    Mit Blick auf die „Niederlagen mit Ankündigung“ stellen sich mir vor allem zwei Fragen:
    1. Wieso findet das Trainerteam keine taktischen Lösungen? 4-4-2flach ist ja nett, löst aber eben nicht das Problem, wie man simple lange Bälle verteidigt und auch die bessere Zuordnung auf den Außenbahnen ist erst einmal nur eine theoretische Lösung, so lange unsere AV so hoch stehen und gerne auch mal den letzten Meter defensiv nicht mitgehen. Dann bleiben dort nämlich die Löcher, wie man selbst gegen spielerisch limitierte Rostocker sehen konnte. Es gibt ja auch andere Optionen, z.B. kann man die Dreierkette auch spiegeln (wie gg. Rostock mit dem einrückenden Smith) oder offensiv auf ein klares 4-3-3 setzen, um gegen die Fünferkette mehr Druck in der ersten Reihe und bessere Möglichkeiten zum Flügelwechsel zu haben.
    2. Unabhängig von der Taktik stellt sich mir mittlerweile die Frage, ob es uns bei all den „Zockern“ nicht einfach der Spielertyp im Team fehlt, der auch mal gegen hält und selber hinlangt. Man kann das natürlich von den Spielern einfordern, wie TS es mittlerweile auch öffentlich macht. Nun ist dies sicherlich ein einigermaßen „talentfreier“ Bereich, aber eben auch Charaktersache. Spielern wie Paqarada, Hartel, Eggestein usw. liegt es überhaupt nicht, selbst das Kampfschwein zu geben. Jedenfalls habe ich mittlerweile das Gefühl, dass die Mischung im Team in dieser Hinsicht nicht passt.

    Und über allem schwebt natürlich die Frage, wie groß die Findungsschwierigkeiten im Team sind: Schließlich muss sich die doch ziemlich runderneuerte Mannschaft noch finden.

    P.S.
    Interessant ist übrigens auch der xG against – Wert: Danach lassen wir defensiv wenig zu. Für die offensive Spielweise der Mannschaft ist ein Platz unter den Top 6 der Liga eigentlich ziemlich stark…

  4. Ich bin offen gestanden zur Zeit ziemlich planlos, in welche Richtung die Verantwortlichen gerade planen. Wenn man etwa in Richtung eines 4-4-2 flach gehen will, fehlen uns m. E. die dafür notwendigen Außen. Dann haben wir allmählich ein großes Angebot an zentralen, mindestens teilweise defensiv ausgerichteten Mittelfeldspielern, die eigentlich nur Sinn machen, wenn du mit einer Doppel-6 spielst. Oder wenn du weiter Raute spielen willst und eine hohe Dichte an zentralen, variabel einsetzbaren Midfieldern brauchst. Welche Rolle sollen Metcalfe und Boukhalfa spielen, welche Fazliji? Alles Verpflichtungen, die mit großen Vorschusslorbeeren, mit großen Hoffnungen verbunden schienen, aber ich sehe gegenwärtig nicht den ihnen zugedachten Platz. Ich hoffe, dass das Bild bis zum Ende der Transferperiode klar wird und die Puzzleteile dann auch ineinander greifen. Zur Zeit wirkt es auf mich so, dass da vieles unverbunden nebeneinander steht.

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