Collinas Erben

Collinas Erben

Anonymes Beleidigen im Internet, Kritik äußern am Smartphone ohne Konsequenzen zu befürchten – all dies hat jetzt dazu geführt, dass sich Deutschlands führender Schiedsrichter-Podcast „Collinas Erben“ von Twitter zurückgezogen hat.

Standardfrage, nahezu jedes Wochenende: „Schiedsrichter?! Warum tust Du Dir das an?!“
Tja… in erster Linie, weil es dann doch häufig Spaß macht. Allerdings ist das Pfeifen im beschaulichen Schleswig-Holstein, welches noch nie einen Fußball-Erstligisten im Männerfußball gestellt hat, vielleicht auch etwas angenehmer als in anderen Bundesländern.
Worauf ich hinaus will: Ohne Collinas Erben wäre ich heute nicht Schiedsrichter und auch mein Sohn hätte mit diesem Hobby nicht angefangen. Das wären „nur“ zwei Schiedsrichter weniger, wahrscheinlich gibt es aber auch hier eine gewisse „Dunkelziffer“ – und das bei einem ohnehin bereits besorgniserregenden Schiedsrichter*innen-Mangel überall.

Elf dafür, elf dagegen

Es gibt da diese kleinen Scherze unter Schiedsrichter*innen:
„Und? War’s ein Elfer?“
„Klar… also zumindest waren elf dafür. Aber halt auch elf dagegen. Ich hab den einen dann mit Rot runtergestellt, da hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite.“

Schiedsrichter*in zu sein ist nicht gerade Vergnügungssteuerpflichtig. Und für das bisschen Geld macht es im Amateurbereich auch ganz sicher niemand. Im Profifußball wird das immerhin ganz gut vergütet, im Amateurfußball gehört schon eine gewissen Portion Idealismus dazu – und viele werden sagen, ein bisschen Masochismus kann auch nicht schaden.

Ich habe seit meinem sechsten Lebensjahr Fußball gespielt, über dreißig Jahre für Werder, den FC Oberneuland und den FC St. Pauli. Nie besonders hoch, ein paar Mal Bremer Meister, ein bisschen Bezirksliga in Bremen, das war’s. Als Torwart hatte ich auch immer ein besonderes Mitteilungsbedürfnis, wahrscheinlich kommt das aus der Ohnmacht heraus, am Spiel des eigenen Teams häufig nicht beteiligt zu sein – der Schiedsrichter (ich kann mich zumindest nicht erinnern, jemals von einer Schiedsrichterin gepfiffen worden zu sein) konnte sich also immer sicher sein, von mir mit lautstarkem Feedback beglückt zu werden.

Und auch auf den Rängen sparte ich nie mit lautstarker Meinung zu den Entscheidungen der Referees, schließlich spielte ich ja schon ewig und wusste daher alles, meistens sogar besser.
Dies alles änderte sich dann langsam, als ich begann den Podcast von Collinas Erben zu hören. Alex Feuerherdt und Klaas Reese machten sich irgendwann auf, die Fußballregeln zu erklären, stellten aber bald fest, dass ein Bezug zum Geschehen im Profifußball sich noch besser vermitteln lässt, indem man Szenen aus den Bundesligen bespricht. Während Klaas die Perspektive des Fans, Spielers und Hobby-Schiedsrichters einnimmt, ist Alex inzwischen nicht mehr „nur“ Schiedsrichter-Beobachter und Lehrwart im Kreis Mittelrhein, sondern auch anerkannter Experte für Regelfragen aller Art, u.a. auch bei Sky.
Und beide besprechen das mit viel Humor, aber ohne Schaum vorm Mund und mit etwas Abstand – und immer mit der Frage im Hinterkopf, WARUM da so entschieden wurde.

„Das machst Du doch mit Absicht!“

Denn eins ist ja klar, auch wenn der Fußballfan als solches das natürlich ungerne zugibt: Kein*e Schiedsrichter*in dieser Welt hat ein diebisches Vergnügen daran, absichtlich ein Spiel zu verpfeifen, nur um Kevin aus der Westkurve mal so richtig das Wochenende zu versauen – unrühmliche Ausnahmen wie Robert Hoyzer bestätigen die Regel.
Jeder Mann und jede Frau im Dress der Unparteiischen freut sich, wenn nach einem spannenden Spiel mit möglichst vielen Toren und keinen Verletzten beide Trainer*innen zum Mittelkreis kommen, ein ehrlich gemeintes „Gut gepfiffen!“ mit auf den Weg geben, man aber ansonsten nicht im Mittelpunkt steht.

Und bei mir kam halt irgendwann der Moment, wo der Heimatverein meines Sohnes (den ich in der G-Jugend natürlich auch trainierte) händeringend Schiedsrichter suchte, da ansonsten der 1. Herren ein Punktabzug drohte. Meine aktive Karriere war vorbei, auf Alte Herren hatte ich irgendwie keine Lust, Trainer war nicht so ganz mein Ding – und dieser Podcast von den beiden machte dann doch neugierig. Also: angemeldet, im zarten Alter von 40 Jahren.

Ich fand schnell Spaß daran, kletterte auch noch durch die Kreisklassen und die Kreisliga und durfte dann sogar noch in die Verbandsliga aufsteigen, als Assistent sogar einzelne Einsätze in der Oberliga machen. Und das alles nur, weil mich Collinas Erben irgendwann auf den Geschmack gebracht hatten bzw. Verständnis schufen für eine Perspektive, die den meisten Fans (und leider auch vielen Eltern am Spielfeldrand im Kinder- und Jugendfußball) nach wie vor fremd ist.

„… dann wird es auch irgendwann mal zu viel“

Abgesehen vom Podcast (und regelmäßigen Artikeln, u.a. bei n-tv und der Expertentätigkeit in zahllosen Formaten) war bisher auch der Twitter-Account von Collinas Erben eine erstklassige Anlaufstation für Regelfragen und Diskussionen über strittige Entscheidungen des Wochenendes. Und die gut 50.000 Follower*innen mussten nun feststellen, dass dieser Account vorerst vom Inhaber deaktiviert wurde.

Anlass dafür waren die Reaktionen auf eine Erklärung des Accounts zum (nicht geahndeten) Handspiels im Spiel Hertha BSC gegen Bayer 04 Leverkusen, bei dem Leverkusens Kossounou den Ball mit dem rechten Oberarm blockte – und Schiedsrichter Benjamin Brandt sich die Szene trotz immenser Proteste nicht nochmal selbst anschaute. In den Sportschau-Highlights ist die Szene ab 6m38s zu sehen.

„Das Gehirn von den Leuten, die im Internet herumpöbeln ist sooooo klein.“ Deniz Aytekin, Schiedsrichter-Experte
// (c) Matthias Hangst/ Getty Images via OneFootball

Ich war an jenem Nachmittag selbst als Assistent in der Landesliga unterwegs, habe die Aufregung erst mitbekommen, als der Account bereits deaktiviert war. Ich weiß also auch nicht, was genau dort als Erläuterung zu der Entscheidung geschrieben wurde.

Für mich ist das ein klares Handspiel, bei dem ich aufgrund der Dynamik verstehen kann, wenn der Schiedsrichter dies live zunächst anders wahrnimmt. Warum genau der VAR (Dr. Matthias Jöllenbeck) hier nicht auf Strafstoß entscheidet oder Schiri Brandt zum Review bittet, entzieht sich meiner Kenntnis (und wäre mal wieder ein gutes Beispiel dafür, dass ein Offenlegen der Kommunikation zumindest im Nachgang vielleicht Vorteile hätte und Verständnis und/oder Akzeptanz schaffen würde). Es gibt sicher Argumente (kurze Distanz, T-Shirt-Linie, normale Körperhaltung) die man anführen könnte, aber unterm Strich spricht hier (aus meiner Sicht) deutlich mehr bis hin zu „alles“ für einen Strafstoß. Der Ball trifft eher den Bereich des Ellenbogen statt des Schulterbereichs, der Arm hat zwar keine Spannung, vergrößert aber doch deutlich die Körperfläche – und die Distanz ist zwar knapp, aber nicht zu knapp.

Wie gesagt, was auch immer Collinas Erben dazu im Detail geschrieben haben, wo es sich ja häufig um Erklärungsansätze handelt, WARUM eine Entscheidung so getroffen wurde, ohne dass man diese als die alleine und heilige Wahrheit verkauft – die Reaktionen darauf fielen heftig aus:

„Leider ist es oft so: Wenn man regeltechnische Erklärungen anbietet, ist man bei Twitter zu Kürze gezwungen, das kann dann schwierig werden. Twitter ist dann schnell erhitzt.
Das geht auf Dauer schon an die Substanz, wir versuchen zu erklären, warum Schiedsrichter so oder so entschieden haben. Wir können mit Kritik leben, aber wenn sich das so ballt, dann ist es wirklich arg.
Wenn man dann zum 220. Mal liest, dass man inkompetent ist, ein Hurensohn, keine Ahnung hat gelöscht gehört oder dem DFB in den Arsch kriecht, dann wird es auch irgendwann mal zu viel.“

Alex Feuerherdt im Deutschlandfunk

Im Gespräch mit Astrid Rawohl (5min) im Deutschlandfunk (Sport am Sonntag) schildert Alex die Gründe, die dann schlussendlich zur Deaktivierung des Accounts geführt haben. Über 200(!) Beschimpfungen dieser Art gab es. Zwei-Hundert!
An einen Twitter-Account, der dort komplett ehrenamtlich betrieben wird (auch wenn Alex zusätzlich als Experte bei Schiedsrichter-Experte bei Sky tätig ist). Wo also Menschen in ihrer Freizeit eine Leistung erbringen, die uns Fußballfans die Tücken und Tiefen des Regelwerks näher bringen und zumindest versuchen, die Emotionen aus diesem Thema herauszunehmen.

Bevor das missverstanden wird: Emotionen gehören natürlich dazu – und (wie oben beschrieben) insbesondere auch als Fan, erst recht auf den Rängen. Aber am Smartphone oder Computer jemanden beschimpfen, der nur der Überbringer einer Nachricht ist?
Der für viele Fans Woche für Woche Fußballregeln geduldig erklärt, auch auf den x-ten Hinweis nochmal auffächert, warum die „Doppelbestrafung“ entgegen landläufiger Meinung nicht vollständig abgeschafft wurde, was „deliberate play“ und ähnliche Begriffe bedeuten und vieles mehr?

Und das alles ist zwar nun auf Twitter eskaliert, das Medium steht ja aber nur exemplarisch für das Verhalten gegenüber Schiedsrichter*innen überall und in allen Ligen.
(Harmloses) Beispiel Landesliga vom Samstag: Ein älterer Herr schreit mich völlig außer sich an, dass der Ball „NIEMALS!“ im Aus gewesen sein könne. Schließlich stehe er direkt davor und ich sei ja gar nicht auf Ballhöhe gewesen. Gut, es ging ums Seitenaus und vielleicht wäre dafür die Ballhöhe auch gar nicht hilfreich gewesen und meine Position die viel bessere, aber auch zwei Minuten später hatte er sich noch nicht beruhigt – bei einer Einwurf-Entscheidung in der Landesliga beim Stand von 1:1 in der 60. Minute. (Wo der Ball unstrittig gut 30cm im Aus war, was auch der Spieler nicht ansatzweise bestritt.)

Was stimmt denn nicht mehr, mit den Menschen? Ist das die Überhöhung des Fußballs? Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation nach über zwei Jahren Pandemie, dem Krieg in der Ukraine, Klimakrise und Energiekostenexplosion?

Man erlebt leider immer wieder, dass es kein Grau mehr gibt. Es gibt nur noch Schwarz und Weiß. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Schiedsrichter*innen sind alle ahnungslos, nur der Rentner an der Bande mit drei Sky-Spielen pro Woche weiß über Abseits Bescheid. Fans wissen alles besser als der Sportchef, die Taktik hätte man auch definitiv besser hinbekommen als der Trainer und die Transferpolitik ist ohnehin eine Frechheit. 80 Millionen Bundestrainer*innen waren ja noch eine entspannte Wohltat, weil mich die Nationalmannschaft eh nicht interessiert. Mit 80 Millionen Epidemiolg*innen, Bundeskanzler*innen, Verkehrs- und Verteidigungsminister*innen tat ich mich schon deutlich schwerer (und dies ist eine gehörige Untertreibung) – aber als Schiedsrichterexperten möchte ich wirklich keine 80 Millionen haben, mir reichen Klaas Reese und Alex Feuerherdt da vollkommen aus.

In diesem Sinne: Kopf hoch, Ihr beiden! Ich hoffe, Ihr reaktiviert den Account im dafür von Twitter vorgesehenen Zeitraum, die etwa 50.000 Follower*innen würden Euch sicher dafür danken.
Sollte dies nicht passieren, freue ich mich weiterhin auf Euren Podcast (der ganz nebenbei gerne wieder häufiger erscheinen darf) und werde immer dafür dankbar sein, dass Ihr mir die Schiedsrichterei näher gebracht habt.

Gut Pfiff!
// Maik

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5 thoughts on “Collinas Erben

  1. Moin Maik,
    Danke für Deine wahre Worte hier, ich hoffe auch sehr, dass ich auf Twitter bald wieder kurz und knackig das „Fußballregelwerk“ von „Colinas Erben“ erklärt bekommen werde.
    Ich habe auf Twitter auch immer wieder das Gefühl, daß es einigen Nutzern leider an Abstraktionsvermögen mangelt und welche dann dadurch schnell persönlich werden.
    Übrigens haben wir auch eine Schiedsrichter Abteilung im FC Sankt Pauli e.V., welche irgendwie nicht wirklich bekannt ist.
    Forza

  2. Auch von mir vielen Dank fuer die schonungslos offenen Worte. Ich habe mit Twitter&co zwar keine Beruehrungspunkte, aber allein die Kommentare im st.pauli-forum nach dem Unentschieden gegen
    Sandhausen lassen mich Boeses ahnen. Und da trifft „Fans wissen alles besser als der Sportchef,
    die Taktik hätte man auch definitiv besser hinbekommen als der Trainer und die Transferpolitik ist
    ohnehin eine Frechheit.“ wirklich den Nagel auf den Kopf (Faust aufs Auge?). Anyway, super interessant
    verpackte Geschichte (ich kenne den Rentner und die Papas an der Seitenlinie 😉 ) aus einer Welt
    (meint die Abgruende von social media) zu der ich nie gehoeren werde. Was lob ich mir die alten
    newsgroups, da wurde natuerlich auch „free speech“ gepredigt und gelebt, aber lange Zeit war es
    dennoch ein attraktiver Diskurs mit kompeten Inhalten und gegenseitigem Respekt. Danke fuer
    eure Arbeit, ihr gebt mir ein wenig Heimatgefuehl.

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