20 Jahre USP – Wer es nicht fühlt, kann es nicht verstehen

20 Jahre USP – Wer es nicht fühlt, kann es nicht verstehen

Ultrà St. Pauli, besser bekannt als USP, feiert an diesem Wochenende das zwanzigjährige Bestehen. Zwanzig Jahre Subkultur, Ultra, Emotionen und „eine Kurve völlig außer Kontrolle“.
Happy Birthday, beste Ultras dieser Stadt!
Foto: Stefan Groenveld

Die Älteren unter uns erinnern sich. Nach all dem „Freudenhaus der Liga“-Gedöns Ende der 80er und Anfang der 90er lebte die Stimmung am Millerntor lange eher vom Mythos als von der tatsächlichen Lautstärke.
Die Gründung der „Singing Area“ im November 1997 sorgte dann zumindest vorerst für eine deutliche Verbesserung und sowohl die „Passanten“ als auch den 1999 gegründete Fanclub „Carpe Diem“ würde man heute wohl als Ultra-Gruppierung bezeichnen. Letzterer bekannte sich auch als erste Gruppe bei St. Pauli selbst zu diesem Begriff, der damals ja doch eher noch mit Italien assoziiert wurde.

Hochgehaltene Schals in der Südkurve.
Schalparade // (c) Stefan Groenveld

Carpe Diem ist dann wohl auch die bekannteste der Gruppen, die sich 2002 eben zu USP zusammenschlossen:

„Aus Fansicht war die Gründung von USP sicher eine gravierende Neuerung zu Beginn der Saison. Hervorgegangen aus mehreren Einzelpersonen und Fanclubs existierte von da an eine offene Ultra-Gruppe, in der jede*r mitmachen und sich einbringen konnte. Das Ziel war, die absolute Lethargie in der Fanszene aufzubrechen und in diesem Bereich endlich wieder was zu bewegen, indem man gerade jugendlichen St. Pauli Fans wieder einen Anlaufpunkt bietet. Seit der Gründung ist die St. Pauli Ultraszene ständig gewachsen und sicher die Bewegung, die am Millerntor zur damaligen Zeit am meisten polarisierte. Der Fanblock unter Block 1 der Gegengerade wurde ab der Gründung kontinuierlich bunter und aktiver. Im Laufe der Saison kam das erste Mal ein eigenes Fanzine hinzu, die Gazetta d’Ultrà. mit der der einst so üppige Fanzine-Markt wieder ein wenig mit Leben gefüllt werden konnte.“

Aus dem Buch: „15 Jahre Fanladen St. Pauli – 20 Jahre Politik im Stadion“

Ab in den Süden

Ja, richtig. Lange Zeit stand USP noch auf der Gegengerade, unterhalb der „Singing Area“. Im Dezember 2006 riss Corny Littmann dann (mehr oder weniger höchstpersönlich) die Südkurve ab und schuf Fakten, die quasi die Grundlage für den Umzug von USP in die Süd bildeten.
Auf Ab in den Süden konnte man seit November zumindest schon mal von der Idee einer von USP in Zusammenarbeit mit dem Fanladen selbst verwalteten Kurve lesen, was in dem Rahmen bis heute immer noch eher eine Ausnahme in Deutschland sein dürfte:

08.11.2006 >> Start von Ab in den Süden – die Kurve der Ultras
Herzlich Willkommen auf der Internetseite Ab in den Süden- die Kurve der Ultras. Es handelt sich hierbei um ein Projekt von Ultrà Sankt Pauli, dass wir mit Hilfe des Fanladens betreiben. Wir werden versuchen eine Fankurve in der neu zu bauenden Südkurve des Millerntor-Stadions zu schaffen und zu etablieren.
[…] Lebt ultrà! Lebt St.Pauli! Auf in die Kurve der Ultras!

Ab in den Süden

Ebenfalls heutzutage kaum noch zu glauben: Einen der ersten größeren Auftritte nach der Vorstellung des neuen Konzepts gab es beim Hallenturnier(!) in Alsterdorf, was wir euch nicht vorenthalten wollen.
Augen und Ohren auf! // YouTube

In der 2009 veröffentlichten Vereinsenzyklopädie aus dem Werkstatt-Verlag, geschrieben von Ronny Galczynski und Bernd Carstensen, findet sich zu USP folgender Eintrag:

„Der Begriff USP steht am Millerntor für die Gruppierung „Ultrà Sankt Pauli“ und ist nur vordergründig eine der vielen neuen Ultra-Gruppierungen, die sich in den letzten knapp zehn Jahren hierzulande in der Fanszene vieler Vereine gegründet haben und mit Dauergesängen, bunten Choreographien, Doppelhaltern und einigem mehr für Stimmung im Stadion und die vorbehaltlose Unterstützung ihrer Mannschaften sorgen wollen.
Diesen Anspruch hat USP zwar auch, aber geht mit seinem Wirken weit über das hinaus, was „ultra leben“ für die meist jüngeren Anhänger bedeutet. So gehören bspw. Demoteilnahmen gegen Nazis, Respression oder Asyllager ebenso zum Selbstverständnis der meisten braunweißen Ultras wie die Einbindung von Flüchtlichen in das Alltagsleben ihres Fandaseins […].“

FC St. Pauli Vereinsenzyklopädie – Verlag Die Werkstatt, 2009

Und gerade dieser zweite Absatz ist vielleicht der Wichtigste, wenn man das Wirken von USP aus heutiger Sicht beschreiben will: Denn Fußballfans, noch dazu regelmäßig auswärtsreisende, waren landläufig über Jahre hinweg die Krawallmacher, Hooligans und Vollasis – und erst mit der Zeit und mit dem höheren Organisationsgrad und Aktivitäten der Ultrakurven wandelte sich dieses Bild in der Öffentlichkeit, auch wenn es schon vorher oft nicht korrekt war.

Dieses soziale Engagement außerhalb des Spieltags – es ist heutzutage für die allermeisten Ultragruppen eine Selbstverständlichkeit, hier zählte USP aber sicher zu den Vorreitern, auch ohne dies regelmäßig an die große Glocke zu hängen.
Zwischendurch nochmal Bock auf Musik? Na dann: Hallenturnier 2010! // YouTube

Erwachsen werden

Die Geschichte dieser Gruppe in allen Einzelheiten zu erzählen – das würde wohl a) den Rahmen sprengen und selbst dann würde ich wohl b) noch einiges gar nicht erzählen können. Weil ich es wahlweise selbst nicht weiß oder es aber auch einfach nicht in die Öffentlichkeit gehört.
Eine wirklich gute Grundlage bietet aber unsere Monatssendung aus Oktober 2018, in der sich USP erstmals so einem Medium öffnete – und ja, mit 3h44m ist es etwas länger geworden.

Sehr wohl aber lässt sich hier exemplarisch auflisten, mit welchen größeren Themen man sich über die Jahre beschäftigte, die in Summe sicher alle auf verschiedenen Wegen zu dem beitrugen, wie USP sich heute nach außen darstellt und nach innen selbst begreift.

1. Die Rostock-Blockade 2010

Das Wort „Zäsur“ trifft es in diesem Fall wohl ganz gut. Erstmals ging ein auch nach außen deutlich sichtbarer Riss durch die Fanszene des FC St. Pauli. Grund hierfür war das Verhalten von Corny Littmann im Vorfeld eines Spiels des FC St. Pauli, bei dem dieser in Zusammenarbeit mit der Polizei schlussendlich dafür sorgte, dass die Fans des FC Hansa Rostock nicht zum Spiel am Millerntor reisten bzw. reisen durften (verkürzt dargestellt).

USP war nicht alleine in der Ablehnung dieses Verhaltens, es gab ein breites Bündnis von weiteren Gruppen, auch auf der Gegengeraden – aber das größte und sichtbarste Symbol nach außen war natürlich die Blockade der Südkurve, die eben durch USP durchgesetzt wurde (stellvertretend für viele Texte zu dem Thema hier mein damaliger Text im Übersteiger-Blog).

Erstmals zeigte sich recht offen, dass das Selbstverständnis von Ultra und „aktiver Fanszene“ auf der einen Seite und den „normalen“ Stadiongänger*innen auf der anderen, die sich nicht sieben Tage die Woche mit dem Verein beschäftigen, manchmal unüberwindbare Differenzen ergibt, die man dann eben im Zweifel aushalten muss.
Die Blockade der Südkurve setzte, bei allen Schwierigkeiten, ein wichtiges Zeichen in vielen Bereichen.

2. Die Derby-Niederlage 2019

Die sportliche 0:4-Niederlage am Millerntor war sicherlich schlimm, wäre aber ohne die Begleitumstände in solch einem Rückblick kaum der Rede wert. Es war (wie so oft) eher das Drumherum – und es gab erneut einen tiefen Riss.
Zusammengefasst sorgte das Verhalten einiger auf der Süd in der Kombination mit viel Pyrotechnik dafür, dass Teile der Gegengerade sich mal wieder an „den Ultras“ abarbeiten konnten, sicher auch befeuert (no pun intended) durch den eigenen Ärger über diese Niederlage.
Auch hier der Verweis auf einen Blog-Artikel von damals dazu.
Wer sich das in aller Ausführlichkeit nochmal antun möchte, kann auch unsere nahezu direkt im Anschluss aufgenommene Monatssendung von damals anhören:

Es dauerte bis zu einem Heimsieg gegen Holstein Kiel und einem nahezu magischen Wechselgesang, bis diese Gräben zumindest notdürftig wieder zugeschüttet werden konnten.

3. Vorwürfe von sexistischem Verhalten

Ein ebenso einschneidender Punkt, der dann sogar dazu führte, dass man als Gruppierung auf das verzichtete, was doch immer noch das Kernelement des Ultra-Daseins sein sollte: Der Support am Spieltag.
Vorwürfe an USP in Bezug auf Sexismus und sexistisches Verhalten sind etwas, was dem Selbstverständnis der Gruppe (und der Fanszene) komplett entgegen steht – und daher natürlich Folgen hatten. Die Aufarbeitung dauert an und im jüngsten Podcast von Debbie, wo sie mit Laura, Leah und Svenja drei weibliche Ultras zu Gast hatte, bezeichnet sie selbst diesen Themenkomplex in einer Frage als Tiefpunkt – wird aber dann auch gleich korrigiert, weil dies umgekehrt auch viele Dinge und Prozesse angestoßen habe und somit zwar ganz sicher nichts Positives sei, aber eben doch auch wieder zu dem beitrage, wie USP heute sei.

Happy Birthday, USP – auf die nächsten 20!

Ja, diese Auflistung ist natürlich nicht vollständig und sie listet jene Themen auf, welche die Gruppe auch in eine breitere Öffentlichkeit gezogen haben. Was aber fehlt in der Auflistung sind:

  • 20 Jahre Support am Spieltag, der im besten Fall für eine „Kurve völlig außer Kontrolle“ sorgte
  • 20 Jahre Support, der dafür sorgt, dass wir Tage später plötzlich Chants summen, weil sie uns einfach nicht loslassen
  • 20 Jahre Support, der bewirkt, dass wir Montags lädiert und mit brüchiger Stimme bei der Arbeit erschienen
  • 20 Jahre Support, der auch dafür sorgt, dass wir irrwitzige Kilometerzahlen auf uns nehmen, um gemeinsam im Block unser Team nach vorne zu peitschen.
  • 20 Jahre Aktivitäten abseits der Spieltage
  • 20 Jahre helfenden Hände bei vielen, vielen wohltätigen Aktionen rund um den Verein
  • 20 Jahre laute Stimmen auf Demonstrationen
  • 20 Jahre stete Verschönerung nicht nur des eigenen Viertels
  • und vieles mehr.

Was ich jetzt auch nicht aufgeführt habe, was aber gerade in dem eben erwähnten und absolut empfehlenswerten Female St. Pauli Stories Podcast rauskommt:
Wer es nicht fühlt, kann es nicht verstehen.
Ultrà Sankt Pauli ist so viel mehr als nur der Support am Spieltag. Der Zusammenhalt der Gruppe, die Unterstützung des Vereins, die Aktivitäten außerhalb des Spieltags, die einzelnen Arbeitsgruppen, die Choreos und deren Planung – und ja, auch das „zwölfstündige Bewachen einer Mülltonne“, wie es leicht übertrieben formuliert wurde.
Ich kann mir zumindest keine Ultra-Gruppierung vorstellen, die ich lieber bei meinem Verein sehen würde.

Jetzt steht aber erst mal das Wochenende an und dabei fühlen und verstehen es hoffentlich alle.
Neben diversen kleineren Aktionen am Wochenende gibt es am Samstagabend die große Feier für alle im Ballsaal Süd. Karten gibt es für 10€ heute noch im Fanladen (der morgen geschlossen hat) und im Jolly oder für 15€ an der Abendkasse. Alle hin da.

Und ab dem letzten September-Wochenende könnt ihr im FC St. Pauli-Museum die Sonderausstellung „20 Jahre Ultrà Sankt Pauli“ besuchen, welche von aktiven und ehemaligen USP-Mitgliedern gestaltet wurde. // YouTube

Liebe Ultras – für immer mit Euch!
Forza St. Pauli
// Maik

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2 thoughts on “20 Jahre USP – Wer es nicht fühlt, kann es nicht verstehen

  1. USP hat eine Tradition, ohne Frage und vieles ist auch sehr gut für unseren Verein, dieses Herzblut, Leidenschaft …
    War für mich aber auch ein Grund, die Südkurve nachhaltig zu verlassen, weil ich gewisse Tendenzen erkannt habe, die so gar nicht zu unserem Verein passen und mich sehr gestört haben.
    Dennoch ist jeder Mensch, der ein braunweißes Herz trägt, natürlich immer willkommen, glaube aber, das eine gewisse Polarisierung in unserem Verein läuft, die sehr bedauerlich ist, aber wohl auch nicht mehr zu ändern sein wird.

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