Vom Wahnsinn besessen

Vom Wahnsinn besessen

Eine Frage, die vor wenigen Wochen noch undenkbar schien, lässt aktuell Herzen höher schlagen: Kann der FC St. Pauli tatsächlich aufsteigen? Ein Kommentar von Tim.

Es gibt viele Attribute, die der 2. Bundesliga zugeschrieben werden. Mal ist es die beste, mal die spannendste, mal die schönste, mal die bunteste, mal die lauteste, mal die wildeste 2. Liga aller Zeiten. Das ist natürlich alles Marketing-Sprech aus der Vorhölle. Denn sind wir mal ehrlich: Die 2. Bundesliga ist an vielen Stellen alles andere als laut, bunt und schön (auch wenn es natürlich viele Dinge gibt, die man an ihr gut finden kann). Ganz genau weiß das der FC St. Pauli, der seit 2011 in der 2. Liga spielt und damit der dienstälteste Teilnehmer dieser Spielklasse ist.

Jeder kann jeden schlagen – aber hier gewinnt nur einer!

Was man der 2. Liga aber ganz sicher zuschreiben kann: Es ist eine sehr ausgeglichene Spielklasse, eigentlich schon seit immer. Klar, der Spruch „die ausgeglichenste 2. Liga aller Zeiten“ zieht niemanden vor den Fernseher, aber so ist sie nun mal, die Liga in der „jeder jeden schlagen kann“ (womit wir dem Marketing-Sprech schon wieder etwas näherkommen).
Umso bemerkenswerter ist der Ausreißer aus dieser Ausgeglichenheit, der Fehler im System: Die inzwischen auf zehn Siege angewachsene Siegesserie des FC St. Pauli.

Heidenheim, Deutschland, 08.04.02023 - Die Spieler des FC St. Pauli feiern den Auswärtssieg beim 1. FC Heidenheim - Copyright: Peter Boehmer
Insassen, Lokführer und Schaffner des Choo-choo Hypetrain. // (c) Peter Böhmer

Es ist inzwischen egal, wie man es dreht und wendet: Zehn Siege in Serie brechen an allen Ecken und Enden Rekorde. Der FCSP hat in nur zehn Spielen mehr Punkte geholt als 15 Teams in der gesamten Hinrunde 22/23. Nur noch sechs Punkte aus den verbliebenen sieben Spielen fehlen, um den eigenen Punkterekord in einer Halbserie in der 2. Liga zu egalisieren. Erreicht hat man mit dem zehnten Erfolg auf jeden Fall den KSC, der in der Saison 86/87 ebenfalls so oft in Serie gewann – und am Saisonende nach durchwachsener Hinrunde noch aufstieg (und so den ebenfalls starken FCSP noch vom Aufstiegsplatz verdrängte).

Und mit dieser unerwarteten Serie sehe ich große Probleme auf mich persönlich zukommen: Ich habe Urlaub gebucht an den Spieltagen 32 und 33. Den habe ich im Januar genommen, weil ich dachte, dass ich Fabian Hürzeler und dem Kader eine Menge zutraue: Ich ging davon aus, dass der FC St. Pauli bereits vor den letzten Spieltagen gerettet ist, mit dem Abstieg nichts mehr zu tun haben würde. Ich dachte das ist ziemlich optimistisch, aber nein, das ist weit weg von der aktuellen Situation. Doch Ihr erinnert Euch vielleicht ganz dunkel: Vor weniger als zwei Monaten war ein drohender Abstieg noch ein großes Thema. Das ist doch Wahnsinn.

Hölle, Hölle, Hölle, Hölle…

Nun hat sich der FC St. Pauli aber mit dem Sieg in Heidenheim endgültig in tabellarische Sphären begeben, in denen man das Team, bei allem Optimismus, nicht erwarten konnte. Nein, die Situation ist sogar so surreal, dass man davon nicht einmal zu träumen wagte. Wie konnte es so weit kommen? „Der Eintritt kostet den Verstand“, würde Hartmut Engler jetzt von der Seite einwerfen.

Und so ist auch jedes mathematische Modell irrelevant. Dass die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage mit jedem Sieg weiter steigt? Quatsch! „Wir schauen von Spiel zu Spiel“ sagen Fabian Hürzeler und die Spieler regelmäßig und ich hoffe sehr, dass sie aus diesen Worten auch weiterhin Taten folgen lassen. Denn dann ist es egal, was vorher war und was mal sein kann.
Na klar, einige der zehn Siege waren glücklich. Einige sagen, dass genau diese knappen Spiele in der Hinrunde alle gegen den FC St. Pauli ausgegangen sind. Das möchte ich fett unterstreichen.

Hamburg, Deutschland, 01.04.2023 - Oladapo Afolayan und Jackson Irvine (beide FC St. Pauli) freuen sich über das Tor gegen den SSV Jahn Regensburg - Copyright: Stefan Groenveld
Einfach mal glücklich sein.
// (c) Stefan Groenveld

Aber ab wann kann man eigentlich nicht mehr von Glück sprechen? Wenn man auch das dritte/vierte/fünfte Spiel der Rückrunde in Serie knapp gewinnt, obwohl man scheinbar nicht das bessere Team war? Spätestens dann sollte man zumindest kritisch hinterfragen, ob das eigene und/oder zahlen- und datenbasierte Empfinden noch richtig justiert ist. Denn der FCSP gewinnt gerade einfach alle Spiele und legt damit jedes mathematische Modell in Schutt und Asche. Oder eben all meine Grundlagen der Bewertung eines Fußballspiels. Der Eintritt kostet den (Fußballsach)Verstand.

Mit dieser Siegesserie in einer so ausgeglichenen Liga wandelt der FC St. Pauli auf einem Pfad, in dem Wahrscheinlichkeiten keine Rolle mehr spielen. Man weiß also so oder so nicht was noch kommt.
Elf Siege in Serie? Möglich.
Sieben Niederlagen in Serie. Ebenso möglich.
8:0-Derbysieg? Möglich.
Aufstieg? Na klar, möglich.

Wir wandeln mit dem FC St. Pauli in einer Welt des Wahnsinns.
Alles ist möglich. Also einfach anschnallen, zurücklehnen und genießen.
// Tim

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27 thoughts on “Vom Wahnsinn besessen

  1. Na, dann bist du zum Aufstieg ja jedenfalls wieder da. Ich muss auf einen vorzeitigen in Kiel hoffen. Ich bin echt gespannt, wann die Serie endet. Wenn ich heute auf die Tabelle schaue, sind bis auf die letzten beiden Spiele gg Holstein und KSC, alles gefühlte „jetzt endet die Serie“ Konstellationen. Mannschaften ganz unten oder direkte Konkurrenten. Aber ich lege mich fest, sollte Kaiserslautern Samstag gewinnen, gewinnen wir die nächsten 2 Spiele und dann ist alles drin.

  2. Moin Tim,

    sehr schöner Bericht und wenn man einfach mal nicht zurückschaut, ist es tatsächlich so, dass jeder Sieg zählt und alles möglich ist.

    Habe mal geschaut in den Superlativen des Fußballs:
    -DtN11 15 Siege in Folge auf Länderebene
    -FCB 19 Siege in Deutschland in der BL (alles ist möglich, aber saisonübergreifend)
    -Benfica L 29 Siege in der portugiesischen Liga in den 70er Jahren (auf Platz 13 ist der isländische Vertreter Fimleikafélag Hafnarjarôar mit 18 Siegen) :))) (Celtic ist mit 25 Siegen in Folge auf Platz 4)
    -Steaua Bukarest war mal mit 106 Begegnungen ungeschlagen in der rumänischen Liga

    Bonus:
    -Ed Moses war mal über 400m Hürden 122 Rennen ungeschlagen
    -Lakers gewannen 33x mal in Folge in der NBA
    -Jahangir Khan gewann unglaubliche 555 Spiele in Folge im Squash
    -Martina Navratilova gewann mal 74x im Tennis

    So, reicht….;) Das Spiel dauert 90 Minuten und im Fußball gibt es alle Elfe….

    Three points against the lions….come on boys.

    BW-Grüße Oli

    1. Ich finde die 106 Spiele ohne Niederlage sind absolut realistisch. Wir haben ja schon zwölf, da ist der Weg gar nicht mehr weit… 😉

    2. Alles andere als die Ansage „wir wollen das Jahangir Khan des Fussballs werden !“ von der sportlichen Leitung würde mich enttäuschen. Wieder alle viel zu ambitionslos in unserer Wohlfühloase.

  3. Fairerweise muss man sagen, dass der FCSP bereits in der Hinrunde „alle mathematischen Modelle“ und „all deine Grundlagen der Bewertung eines Fußballspiels“ torpediert hat, nur halt in die andere Richtung. 😀 Aber das ist ja auch das schöne im Fußball und im Durchschnitt passt es dann ja wieder.

  4. oh könnt ihr den bitte nicht veröffentlichen, weil die Autocomplete-Funktion vom Browser dort meinen Nachnamen ergänzt hat und ich es jetzt nicht mehr ändern kann? Danke 🙂

  5. Moin Tim,
    mathematisch gesehen ist eine 11-Sieges-Serie genau so wahrscheinlich wie eine Niederlagenserie mit 11 verlorenen Partien am Stück. Und auch eine Abfolge SnUsNuSnUsN ist genau so wahrscheinlich. Man betrachtet das ganze gerne kausal, ein Zusammenhang zwischen den Spielen zueinander ist aber nicht wirklich gegeben. Von daher muss jedes Spiel einzeln betrachtet werden. Die „Serie“ ist nur ein nettes Konstrukt.
    Was in der Hinrunde klar unterperformt wurde, schlägt jetzt zu unseren Gunsten aus. Am Ende werden sich die Werte an den erwarteten Hochrechnungen vor der Saison in etwa angleichen.
    Trotzdem, oder grade deswegen: Forza FCSP!
    Lieber Gruß
    Pete

  6. *Ich habe Urlaub gebucht an den Spieltagen 32 und 33.*
    Tim! Nein! Ausgerechnet du? Dann aber in Düsseldorf und Kiel?

    Um auf die Frage zurückzukommen.
    *Der FCSP holt in zehn Spielen 30 Punkte. Wie viele Punkte sind das pro Spiel?
    Wie viele Punkte sind das in sieben Spielen?
    Wie viele Punkte sind das in 17 Spielen?*
    Habe ja nicht Mathematik studiert, aber meine Lösung ist drei, 21 und 51 Punkte.

    Immer Weiter Choo Choo

  7. Moin Tim,

    Du hast Urlaub an den Spieltagen 32 und 33?
    DU GLÜCKLICHER!!!!
    Angesichts der damaligen Tabellenlage haben wir Urlaub ab dem 34 Spieltag gebucht. Somit keine Religationsspiele oder Aufstiegsfeier für uns, da in Afrika. Noch nie waren unsere DKs so begehrt.
    ABER, ES IST JA NUR FUßBALL!!!

    Grüße und schönen Urlaub
    Andreas und Dörte

  8. „Alles ist möglich. Also einfach anschnallen, zurücklehnen und genießen.“

    Wirklich Wahnsinn… erst wissen wir nicht, ob wir einsteigen sollen und jetzt müssen wir auch noch den Gurt anlegen! Und.. ja, auch ich habe am letzten Spieltag Urlaub gebucht…😖

  9. Nicht wegen Urlaub rumjammern, Relegation ist was für Heidenheim, wir werden Zweiter!!!1!!!11!!! Ich bin nach dem letzten Speiltag auch zwei Wochen im Urlaub…

    1. 8:0-Derbysieg wurde dem Warenkorb hinzugefügt. Möchten Sie noch weiter einkaufen?
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  10. So langsam fängt mein Glückspulli an zu muffeln, habe ihn seit dem ersten Sieg der Serie an jedem Spieltag an, so auch wieder Sonntag. Aber ich bin halt ein wenig abergläubig.

    Egal meine Nachbarn auf der GG werden mir das natürlich verzeihen.

    Weiter, immer weiter…

  11. Irgendwie geht es mir besser, wenn ich lese, dass noch andere zu früh gebucht haben 🙂 Hat jemand einen Sportsbar Tipp für Ksamil, Albanien?

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