Zweitligaderby! Bock?! Geht so…

2.783!
So viele Tage werden wir am Sonntag Derbysieger sein, seit jenem 1:0 durch Gerald Asamoah am 16.Februar 2011.

Als sich in den letzten Jahren immer deutlicher abzeichnete, dass es ein Derby wohl eher in Liga zwei als im Oberhaus geben würde (Pokal geht ja eh nicht, da fliegt ja immer mindestens einer in Runde 1 raus), gab es wohl nur sehr wenige St.Paulianer, die dem HSV den Klassenerhalt gönnten, weil der Verein nun mal so wichtig für die Stadt ist oder man als Hamburger nun mal für beide Vereine ist. (Ich hoffe, es gab sogar keinen einzigen St.Paulianer der so dachte, aber ich denke dies wäre leicht zu widerlegen.)
Wohl aber gab es einige, die zähneknirschend dem Nachbarn den Klassenerhalt zugestanden hätten, wenn damit einhergehend auch weiterhin aufs Derby verzichtet werden könnte.

Warum das so ist, wurde in den letzten Wochen immer deutlicher… und dass die „Derbysieger seit [x] Tagen„-Zeitrechnung neu begonnen werden könnte(!) hat damit genauso wenig zu tun, wie die aufgerufenen Eintrittspreise in Mordor.

Rumgepimmel vs Körperverletzung

Es gab immer schon Gewalt beim Fußball, die Rivalität zwischen den beiden Hamburger Vereinen (zumindest, seit der FCSP seit Ende der 80er annähernd relevant in Fandingen wurde) stellt da keine Ausnahme dar, eher im Gegenteil.
Allerdings ist früher auch nicht jede Streitigkeit durch Soziale Netzwerke und das Internet allgemein gleich publik geworden, auch in den Medien fanden derlei Fanthemen (wenn überhaupt) seltener Beachtung.
Dies soll solche Geschehnisse nicht verharmlosen, lediglich das oftmals Einzug haltende „Eine neue Dimension der Gewalt!“-Geschrei etwas einordnen.

Und auch vor dem Abstieg des Nachbarn gab es immer mal wieder Gewalt zwischen Fans beider Vereine. Spontan sind mir aus älterer Vergangenheit der Angriff am Bahnhof Altona (medial mit mehr Beachtung, weil auch Benedikt Pliquett angegriffen wurde) oder der Angriff auf St.Pauli-Fan Benny in Erinnerung.
Einzelfälle, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Und es gab da sicher auch Vorfälle mit umgekehrten Vereinsfarben.

In jüngerer Vergangenheit (auch noch vor erfolgter Zweitligaqualifikation des Nachbarn) haben es zwei Fälle in die größere Öffentlichkeit geschafft: Der Angriff auf eine 9-Sitzer-Besatzung nach einer Auswärtsfahrt nach Aue und jener Angriff Anfang diesen Jahres in Wandsbek, der inzwischen auch die Gerichte beschäftigt. Langfristige gesundheitliche Folgen jeweils inklusive.
Auch hier: Zwei Einzelfälle, die es aus unterschiedlichen Gründen in die Öffentlichkeit geschafft haben. Kein Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil, es gab da durchaus weitere unschöne und brutale Vorfälle in den letzten zwei-drei Jahren.
Und auch hier sind „wir“ sicher nicht ausschließlich in der Opferrolle, es sei u.a. an den Angriff auf den HFC Falke erinnert, auch die Tankstelle wurde ab und an besucht… leider meist, wenn grad keiner da war, was dann eben auch eher feige und billig ist.

Mit erfolgtem Abstieg des HSV und damit verbundener gleicher Ligazugehörigkeit, scheinen jetzt aber dann doch sämtliche Grenzen zu fallen, wir haben dazu auch im letzten MillernTon (ca. ab Minute 43) drüber gesprochen, wenn auch eher allgemein, ohne konkrete Fälle zu benennen.

Also, Butter bei die Fische:

  • 1.Spieltag:
    „Vorfreude ist die schönste Freude… Fotzen FCSP!“ (HH OST)
  • 2.Spieltag:
    „Wolle Derby laufen? Fotzen FCSP!“
  • 3.Spieltag:
    „Stellt Euch endlich unserer Gier – 100 Ihr und 100 Wir!“
  • 4.Spieltag:
    „Happy Hauer – 2 für 1: Ihr könnt 100 und wir 50 sein!“
  • Außerdem:
    Grafitti mit „USP töten!“, diverse „Zecken abstechen“-Schmierereien in der ganzen Stadt.
  • Außerdem:
    Ca. 100 Personen, die bei einem Konzert zweier Bands, die der Fanszene des FCSP nahe stehen, auftauchen und offensichtlich nicht nur zum Zuhören da sind, bis das Konzert am Ende abgesagt werden muss.
  • Außerdem:
    Diverse Aufkleber, die deutlich über „rumpimmeln“ hinausgehen, u.a. ein „The Purge“-Filmplakat (in dem Film geht es um die „Säuberung“ von unliebsamen Menschen, hier ist jedes Jahr 24 Stunden lange alles erlaubt, inklusive Mord und Totschlag), „You’ll never walk again“-Ankündigungen, Jack The Ripper-Anlehnungen und viele weitere Geschmacklosigkeiten mehr.
  • Nachtrag, 26.9.: Von Autobahnbrücken baumelnde Stoffpuppen – die fehlten natürlich noch.

Kann man drüber stehen? Gehört zum Fußball dazu, wie aktuell auch die „Hurensohn/Fadenkreuz“-Diskussion um den BVB und Dietmar Hopp?
Puh… schwierig, siehe auch die oben verlinkte Diskussion im Podcast, denn alles hat irgendwann eine Grenze. Und wenn man diese (verbal oder bildlich) immer weiter verschiebt, bis hin zur „Säuberung“ anderer Menschen, ist diese eben überschritten. Deutlich.
Jede einzelne Aktion / Tapete für sich ist nicht das Problem, in der Masse und in der Kombination mit oben erwähnten tatsächlichen Angriffen ist das hier aber einfach zu viel, um es mit „Haha, diese Verrückten!“ abzutun.
Und während ich bei den BVB-Attacken gegen Hopp schon immer noch denke, dass hier nicht wirklich real zur Gewalt aufgerufen wird, zeigen die Vorfälle der letzten Monate, dass hier für Einige die Grenzen zwischen verbaler Aufforderung (=“Fußballfolklore“, wenn man denn so will) und der realen körperlichen Umsetzung gefallen sind.

Und es zeigt sich jetzt, was damals schon prognostiziert wurde:
Die Auflösung von Chosen Few hat dann doch weitreichendere Konsequenzen. Es fehlt ein Regulativ in der Fanszene des Nachbarn.
Alle oben genannten Plakate/Tapeten/Transpis kamen ja nicht verstohlen aus einer hinteren Ecke und waren nach drei Sekunden wieder weg, sondern kamen zentral und prominent aus der Mitte der Kurve.
Widerspruch? Null. Zumindest abgesehen von Einzelpersonen. Kein Statement des Supporters Club oder anderer relevanter Gruppen.
Vielleicht (hoffentlich!) wird da intern gesprochen… wenn das aber an jedem Spieltag wiederholt und inhaltlich auch noch immer weiter gesteigert wird, so fehlt mir da der Glaube. Oder man stößt auf taube Ohren, womit wir wieder beim Fehlen von CFHH wären.
Die Fanszene des FC St.Pauli hat die Leute dort sicher nie begeistert betrachtet, aber man konnte halt zumindest miteinander reden und es gab gewisse Spielregeln und Grenzen die eingehalten wurden. Und außerdem: CFHH hatte (gefühlt) dann doch immer das Selbstbewusstsein der alten Eiche, die sich vom Schubbern des kleinen Nachbarn nicht irritieren lässt und „die da unten“ eher wegignoriert.

Umgekehrt echauffiert sich der HSV-Buchautor Axel Formeseyn in der Kolumne eines lokalen Boulevard-Blatts darüber, dass auf St.Pauli-Aufklebern Freddy Quinn oder Heidi Kabel Anti-HSV Zitate in den Mund gelegt oder sogar mit nem Mittelfinger bebildert werden.
Tja, kann man auch mal machen, vielleicht schaut man dann aber doch eher mal auf die eigenen Machwerke, bevor man sich an sowas abarbeitet…

Apropos, vor der eigenen Tür kehren.
An einem der letzten Wochenenden machten dann Videos die Runde, die zwei Gruppen von Personen Pimmelpropellernd und singend beim Lauf durch den Stadtteil zeigten. Offensichtlich beidseitig darauf bedacht, sich um und bei der Reeperbahn zu treffen und sich aufs Maul zu hauen.
Ende vom Lied: Die Polizei war schon da… wahrscheinlich wenig überraschend, wenn man sich so lautstark zu erkennen gibt.

Am Donnerstag sei es dann (so zumindest ein anderes Boulevard-Printerzeugnis, welches im Gegensatz zur Polizei wohl verständigt wurde) dazu gekommen, dass eine größere Gruppe St.Paulianer (Zahlen zwischen 20 und 30 kursieren) die Halle aufgesucht hätte, in der der HSV seine Derby-Choreo vorbereitet. Dort sei nur noch eine mittlere einstellige Personenzahl anwesend gewesen, was dann auch zu schwereren Verletzungen führte.

Klar: Wenn man permanent klingelt (siehe oben), muss man sich nicht wundern, wenn irgendwann die Tür aufgeht. Trotzdem ist natürlich eine derartige Aktion, insbesondere wenn sie dann schwere gesundheitliche Folgen hat, absoluter Scheiß und führt dann im Zweifel nur zu Gegenreaktionen und weiterem Hochschaukeln… und leider wahrscheinlich nicht „bis einer heult“, sondern bis dann irgendwann der Nächste im Krankenhaus liegt – und hoffentlich nichts schlimmeres.

Die direkte Folge waren dann am Freitagabend schon etwa 100 Personen, die sich an der U-Bahn St.Pauli trafen und (laut schnell kursierenden Meldungen) „Jagd auf St.Pauli“ machen wollten.
Und so wird es wahrscheinlich weiter gehen, immer wieder muss man die Aktion des Anderen toppen.

Und jetzt?

Sind wir hier die Guten?
Wie schon im Podcast diskutiert, sehe ich diese letzte Eskalationsstufe bei uns tatsächlich sehr viel seltener als beim Nachbarn, auch wenn (ich wiederhole mich) obige Schilderungen bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben.
Aktionen wie die Angriffe auf die Tankstelle oder jener (mutmaßliche) Überfall vom Donnerstag zeigen aber eben auch, dass wir uns da ebenfalls nicht aus der Verantwortung nehmen können, nur weil wir keine Menschenverachtenden Aufkleber produzieren.

Ich bin einer der Ersten, wenn es darum geht den HSV abgrundtief scheiße zu finden, ihm den Abstieg bis in die Kreisklasse B zu gönnen und laut lachend mein Smartphone anzuschauen, wenn die Pushnachrichten von Regensburger Toren im Volkspark den kompletten Sperrbildschirm fluten.
Ich finde auch ganz viele Dinge in der HSV-Fanszene doof / falsch / wasauchimmer. Der Satz „Es ist doch nur Fußball!“ steht bei mir auf dem Index, denn natürlich ist es nicht „nur“ ein Spiel, gerade nicht beim FC St.Pauli. Wer ernsthaft beide Hamburger Vereine mag, ist mir (fußballerisch) suspekt.

Aber: Es gibt einen Unterschied zwischen dem Konstrukt des HSV als solchem und den Menschen, die Fans dieses Vereins sind. So blöd es klingt: Mit einigen (wenigen) würde ich sogar viel lieber einen Abend verbringen, als mit einigen (wenigen) Deppen bei uns.
Und niemand sollte körperliche Verletzungen erleiden, weil er die Klamotten des falschen Vereins trägt. Wer sowas (ohne detaillierteren Anlass und weitere Vorkommnisse) anders sieht, sollte ganz dringend seinen Wertekompass neu justieren. Wir haben in der Gesellschaft in diesem Land ganz gewiss aktuell Menschen rumlaufen, gegen die Gewalt eher eine Lösung sein könnte, als „nur“ jemand mit dem falschen Schal oder aus der jeweils rivalisierenden Ultra-Gruppierung.

Der Magische FC-Blog schrieb vor kurzem einen „Verbale Abrüstung jetzt“-Artikel, dem ich mich gerne anschließen möchte.
Erreichen wir damit diejenigen, die wir gerne erreichen würden?
Wahrscheinlich nicht, auf beiden Seiten.
Hab ich ne Lösung für diese Situation? Nein.

Ich werde am Sonntag im Gästeblock sein, ich freue mich auf das Spiel und auch auf die Atmosphäre im Stadion. Ich bin sogar einigermaßen optimistisch, dass es am Spieltag selbst (bei angemessenem Befolgen von An- und Abreisetipps) kaum bis keine Vorfälle geben wird.

Ich bin aber auch immens froh, wenn der Tag erst mal rum ist und wir dann (nach 1-2 Tagen Abklingphase) hoffentlich ein paar Monate Ruhe haben, ehe ähnliches zum Rückspiel wahrscheinlich wieder akut wird.
Und wenn wir dann nächste Saison wieder in verschiedenen Ligen spielen (in welcher Konstellation auch immer), so werde ich das gar nicht schade finden.

Nachtrag, 26.9.: Die Hamburger Polizei hat soeben auf einer Pressekonferenz verkündet, dass es ab Samstag ein Onlineportal geben wird, auf dem man Bilder und Videos hochladen kann, die im Zusammenhang mit der Derby und Straftaten stehen. Analog dem bereits mehr als fragwürdigem Vorgehen bei G20. Der Pressesprecher des FC St.Pauli, Christoph Pieper, kommentierte das auf der PK wie folgt: „Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist gut, aber in diesem Punkt haben wir einen anderen Standpunkt. Wir halten die Maßnahme für nicht angemessen.“
Danke, mehr kann man dazu auch kaum sagen. Außer vielleicht, dass die Polizei für die Öffentlichkeitsfahndung schon beim G20 erst mal fröhlich Bilder sammelte und später rausballerte, ohne (wie sich dann später herausstellte) damit rechtlich auch nur annähernd auf der sicheren Seite zu stehen. Hier wird also schon mal vorab massig alles an Daten gesammelt, was irgendwie abgreifbar ist, ganz egal ob dies später hilfreich ist oder tatsächlich relevant für die Polizei.
Nicht Neues also: Anna und Arthur halten’s Maul, bitte.
Alle bekloppt.
Weitere Infos dazu auch bei der Braun-Weißen Hilfe und beim Fanladen.

 

// Maik

P.S. Sportliches? Ach ja, ist ja auch noch. Ich will das Spiel gewinnen, unbedingt.
Wie USP im Aufruf aber schreibt: Wir sind als Verein und als Fanszene international bekannt, ohne jemals irgendwas relevantes gewonnen zu haben.
Wer St.Pauli-Fan ist, hatte wahrscheinlich vor dem Derbysieg 2011 noch nie einen Derbysieg erlebt, weil man 1977 in aller Regel noch nicht Fan dieses Vereins war. Sollte es also am Sonntag zu einer Niederlage kommen, dann ist das zwar scheiße und es wird mir schlechte Laune bereiten, aber wir sind dann immer noch der FC St.Pauli. Und ich weiß dann immer noch, warum ich hier stehe und nicht ein paar Kilometer weiter.
In diesem Sinne, liebe Mannschaft: Ihr macht das schon – und wenn nicht, stehen wir trotzdem weiter hinter Euch. Jetzt erst mal morgen um Paderborn kümmern, und dann konzentriert am Sonntag folgendes tun: Rausgehen, warmmachen, weghauen.

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6 thoughts on “Zweitligaderby! Bock?! Geht so…

  1. Ich ergänze, dass schon vor vier Jahren immer wieder 20 und 30 Rauten – Kiddies zwischen rund um Bernhard-Nocht-Straße und den Landungsbrücken tingeln, wenn ein FCSP Fanclub zu einer Barkassenfahrt aufgerufen hat.
    Weder entstand da gefordertes Match, noch gab es da irgendwelche Ultras… das ging alles Richtung Familienväter und Ü40 Generation, die zu Dritt auf den Weg zur Barkasse waren.

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