Nach dem Erfolg gegen den 1. FC Heidenheim umgab den FC St. Pauli große Erleichterung, die Freude über starke Einwechselspieler und ein neues Dream-Team.
(Titelfoto: Stefan Groenveld)
„Der FC St. Pauli kann Endspiele“ hatten wir unter der Woche festgestellt und vor der Partie gegen den 1. FC Heidenheim aufgeschrieben. Diese Aussage basiert auf den überwiegend guten Ergebnissen aus der Vorsaison in Spielen gegen Clubs aus unteren Tabellenregionen. Aber wie und ob diese gute Serie am Samstag gegen den 1. FC Heidenheim weitergehen würde, nun, da konnte man natürlich nicht so sicher sein.
Platzverweis verändert Spiel grundlegend
Und das war auch während der Partie so mit der Unsicherheit. Nach einer kurzen Orientierungsphase war der FC St. Pauli im ersten Abschnitt das klar bessere Team, erspielte sich mit sehr variablen Wegen einige gute Gelegenheiten und ließ gegen den Ball so gut wie nichts anbrennen. Den verdienten Lohn gab es kurz vor der Pause durch das erste Saisontor von Martijn Kaars. So weit, so gut. Wie sehr wir alle im Verlauf dieser Partie noch zittern würden, damit hatten zu diesem Zeitpunkt wohl die wenigsten gerechnet.
Doch in der Nachspielzeit der ersten Hälfte flog Eric Smith vom Platz. Eine harte Entscheidung, weil er laut Alexander Blessin erst selbst am Fuß getroffen wurde und dann seinen Gegenspieler „streichelte“. Ein Platzverweis also, über den sich vermutlich viele noch viel mehr ärgern würden, wenn das Spiel nicht positiv für den FC St. Pauli ausgegangen wäre (ich denke dabei unweigerlich an den Elfmeter im Pokal gegen Hoffenheim, wenngleich die Entscheidung da auf jeden Fall viel klarer falsch war).
Millerntor = Großes Theater
In der Folge zeigte der FC St. Pauli ein ganz großes Kämpferherz. Drehbuch-Autor*innen hätten es sich vermutlich nicht besser ausdenken können: Da verliert das Team neunmal in Serie, holt dann einen Punkt aufgrund eines Treffers tief in der Nachspielzeit und empfängt dann einen direkten Konkurrenten zum Abstiegskracher am Millerntor. Ins Spiel startet das Team gut, sehr gut sogar, doch dann fliegt ein zentraler Spieler vom Platz und ab jenem Moment ist klar: Diese Partie könnte nicht nur ein so wichtiges Sechs-Punkte-Spiel sein. Es könnte, je nach Ergebnis, eine Art großes Erweckungserlebnis oder schwerer Niederschlag sein. So oder so war ab dem Moment des Platzverweises klar: An diesem Samstag ist das Millerntor mehr als nur ein Fußballstadion. Es ist ein gigantisches Theater. Für 29.546 Personen, die der Aufführung eines gewaltigen Dramas beiwohnen dürfen.
Der FC St. Pauli tat alles dafür, dass dieses Drama in den kommenden Monaten hoffentlich als großes Erweckungserlebnis gesehen wird. Mit allem, was die Körper hergaben, stemmte sich das Team gegen die Heidenheimer Angriffswellen, verteidigte auf eine Art und Weise, die eine magische Schönheit besitzt – so schön, dass ein Ausgleich oder gar eine Niederlage einen fürchterlichen Schmerz hervorgerufen hätte. Ähnlich, wie es ihn nach den späten Treffern der Bayern vor zwei Wochen gab, nur aufgrund der Wichtigkeit der Partie eben noch viel, viel heftiger.
Diesen Schmerz gab es nicht. Stattdessen ist nach Spielende eine große Erleichterung zu spüren gewesen. Bei Spielern, Trainer und Fans.
Ein schmaler Grat
Nun ist es extrem wichtig, auch dieses Spiel richtig einzuordnen. Es ist völlig unklar, wie das Spiel verlaufen wäre, wenn es der FC St. Pauli mit elf Spielern auf dem Platz beendet hätte. Es ist auch völlig unklar, wie die Stimmung wäre, wenn es Heidenheim gelungen wäre, durch Schimmer in der 47. Minute auszugleichen oder wenn Ramaj beim Abschluss zum 2:0 durch Kaars etwas besser ausgesehen hätte. Der 1. FC Heidenheim hatte allein in der zweiten Hälfte 37(!) Ballkontakte im Strafraum des FC St. Pauli. Mehr als je zuvor in dieser Saison, der FC Bayern München kam auf 28, allerdings über die gesamte Spielzeit. Auf 19 Abschlüsse kam der FCH – mehr hat der FCSP in dieser Saison noch nie zugelassen.
So ist die Freude über den Erfolg natürlich groß und der FCSP hat sich diesen auch total verdient. Aber der Grat zwischen großer Erleichterung und Enttäuschung ist sehr schmal gewesen. Am Ende ist Erleichterung geblieben, der FC St. Pauli wurde für seine Leistung belohnt. Diese Erleichterung war auch Alexander Blessin anzumerken, der nach Abpfiff auf die lange Sieglos-Serie zurückblickte: „Ich sehe, wie die Mannschaft sich gibt und da ist es immer schade, wenn man sieht, dass man sich zu wenig belohnt. Natürlich gab es auch Spiele, wo wir uns nicht mit Ruhm bekleckert haben. Aber es gab auch viele Spiele, wo wir sehr nahe dran waren, uns aber nicht belohnt haben. Deshalb freut es mich für alle (…), natürlich auch für mich. Das war eine Situation, die so hoffentlich nicht mehr vorkommt. Diese Scheiß-Niederlagen-Serie willst du immer wegschieben, aber sie ist trotzdem da. Da ist es schwierig den richtigen Ansatz zu finden. Daher haben wir in den letzten Wochen den Schritt zurück gemacht und ich finde uns dann auch wieder stabilisiert und es war jetzt wichtig, dass sich die Mannschaft dafür belohnt.“
„Einfach mal sacken lassen und genießen“
Das mit der stückweisen Entwicklung sieht auch einer der Führungsspieler so: „Wir haben seit Gladbach immer wieder kleine Schritte gemacht,“ erklärte Hauke Wahl nach Abpfiff und setzte den Erfolg gegen Heidenheim damit in den richtigen Kontext: „Wir haben besser gespielt, haben besser verteidigt, haben uns immer wieder ein Stück näher herangekämpft an gute Ergebnisse. Gegen Bayern waren wir nah dran. Dann haben wir im Pokal gewonnen, das war wichtig. Letzte Woche der Ausgleich, auch wenn es nicht unser bestes Spiel war, war extrem wichtig für uns.“ Warum so wichtig, Hauke? „Weil dann endlich diese Scheiße von euch aufhört mit der Niederlagen-Serie,“ so der Innenverteidiger in gewohnter Manier Richtung Medien-Vertreter*innen. Nun also der logische nächste Schritt dieser positiven Entwicklung, mit dem 2:1-Erfolg gegen Heidenheim und sogar Hauke Wahl, sonst immer für mahnende Worte bekannt, wollte einfach mal glücklich sein: „Ich bin ja auch einer, der gerne auf die Euphorie-Bremse tritt. Aber heute muss man das auch einfach mal sacken lassen und genießen.“
Kaars zeigt seine Qualitäten auf „seiner“ Position
Wie schwer wohl die Last war, die Martijn Kaars von den Schultern gefallen ist? Sicher derart, dass viele von uns damit nicht gut Fußball spielen könnten. Genau das ist Kaars aber gelungen. Sein Doppelpack war letztlich spielentscheidend (Wahl: „Ich freue mich sehr für ihn, für seine ersten beiden Bundesliga-Tore. Die hat er schneller geschossen als ich.“). Der Doppeltorschütze selbst war natürlich hochzufrieden: „Vielleicht habe ich heute gezeigt, was wirklich meine Qualitäten sind. Die Steckpässe in die Mitte, Tore machen und viel Intensität in meinem Spiel.“ Interessant auf jeden Fall, wie detailliert Kaars die Situation zum 1:0 beschreibt und damit deutlich macht, dass „Nicht-Nachdenken, einfach schießen“ ein Ansatz ist, der in vermeintlichen Experten-Sendungen Anklang findet, mit modernem Fußball aber wenig zu tun hat: „Bei meinem Tor habe ich einen perfekten Steckpass von Joel bekommen und wusste, dass ich schnell und mit viel Kraft schießen muss. So konnte er nicht geblockt werden.“ Sieht aus wie „Einfach reingeknallt!“, aber ist eben mehr dahinter.
Hauke Wahl dürfte es nicht wundern, dass sich Kaars in den Sekundenbruchteilen vor einem Torabschluss solche differenzierten und klaren Gedanken machen kann. Weil es einfach die Kernkompetenz des Angreifers ist: „Vorne in der Spitze, da ist er wertvoll. Da kommt er in die Abschlusssituationen. Das ist seine große Stärke und das hat er heute mit zwei Toren gezeigt. Er ist einfach ein cleverer Stürmer, gerade was den Abschluss betrifft.“
Nach Monaten, in denen Kaars zwar mit viel Fleiß auffiel, mit der Liga aber etwas zu fremdeln schien, hat er nun erst in Mönchengladbach getroffen und nun dieses fette Ausrufezeichen gegen Heidenheim gesetzt. Alle drei übrigens nach Vorlage von Joel Fujita (Kaars: „Ich muss ihm was zu Weihnachten schenken.“), dessen Impact für die Offensive auf der rechten Halbposition immer größer wird.

(c) Stefan Groenveld
Fujita legt auf, Kaars trifft
Die Art und Weise, wie Kaars zu seinen Treffern kam, ist auch ein Ausdruck einer Spielweise, die dem FC St. Pauli extrem gut steht. Die es aber in dieser Saison lange Zeit nicht zu sehen gab. Denn bei eigener Führung oder wenn der FCSP auf einen Gegner trifft, der selbst etwas kreieren möchte, kommt das progressive Spiel von Fujita besonders zur Geltung, ebenso wie die Laufstärke von Kaars, Jones & Co. Es ist sehr zu hoffen, dass der FC St. Pauli noch in vielen Partien in dieser Saison die Dinge derart gestalten kann, dass er diesen Umschaltfußball zeigen kann. Die Verbindung zwischen Fujita und Kaars darf sehr gerne zum großen Problem vieler Gegner des FCSP werden.
Der Treffer zum 2:0 ist aber nur zustande gekommen, weil bereits vor dem gelungenen tiefen Pass von Fujita ein FCSP-Spieler mit einer starken Aktion auffällig wurde: Adam Dźwigała setzte sich sehr robust im Zweikampf durch (einige würden sicher sagen: zu robust), gewann so den Ball. Eine Verteidigungsaktion, die ganz nach Blessins Geschmack gewesen sein dürfte, der mutiges Vorwärtsverteidigen von seinen Spielern einfordert. Dźwigała kam rein und beeindruckte mit guter Leistung: So fing er zum Beispiel neun Pässe ab, mehr als jeder andere Spieler in der zweiten Hälfte. Nach Abpfiff setzte Hauke Wahl zu einem großen Loblied an: „Auf Adam ist immer Verlass. Das schätzen wir als Mannschaft. Du kannst ihn nachts um drei Uhr wecken und sagen: „Jetzt musst du ran,“ er ist immer da. Er gibt im Training immer Gas, ist ein Paradebeispiel für Professionalität, das absolute Gegenteil von einem Stinkstiefel. Er ist einer, der alles für die Mannschaft gibt, wenn er spielt, aber auch, wenn er nicht spielt. Deshalb freut es mich immer, wenn Adam ne gute Leistung bringt, das ist ja auch meistens der Fall.“
Dźwigała in Mainz gesetzt, Fragezeichen bei Jones
Adam Dźwigała dürfte nun auch kommende Woche wieder auf dem Platz stehen. Denn der FC St. Pauli benötigt auch in Mainz Ersatz für Eric Smith in der Innenverteidigung. Ob auch Ricky-Jade Jones in Mainz fehlen wird, war kurz nach Abpfiff nicht klar. Der Angreifer hatte sich nach einem Tritt an den hinteren Oberschenkel gefasst, musste kurz vor Schluss wieder ausgewechselt werden. Blessin erklärte, dass man nun schauen müsse, ob Jones sich dabei ernsthafter verletzt hat.
Wer auch immer in Mainz nun mit an Bord sein wird, der FC St. Pauli reist dort mit einer völlig anderen Stimmung an als vor der Partie gegen den 1. FC Heidenheim. Weil er die Gewissheit hat, dass große Leidenschaft und gute offensive Abläufe zum Erfolg führen können, dass das Team dafür belohnt wird. Zwar ist die Freude über das Ende der Sieglos-Serie sehr groß, aber eine andere Serie darf gerne auch in Mainz Bestand haben: Wie der FC St. Pauli nämlich gegen Clubs aus den unteren Tabellenregionen spielt. Denn der FCSP kann Endspiele.
// Tim
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Das war wirklich stark von allen Beteiligten. Tolle Paraden bin Vasilj, Zuckerpässe von Fujita, unendlich vermisste Robustheit und Laufbereitschaft von Irvine, Sahnetore von Kaars. Wenn jetzt noch Nemeth fit zurück ist, wird das ein sehr anderer Saisonverlauf als zuletzt.