Ausbildung contra Wettbewerb?

Ausbildung contra Wettbewerb?

Die Struktur der Junioren-Bundesligen wird kommendes Jahr massiv verändert. Das ist notwendig, sagt Benjamin Liedtke, Leiter des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) beim FC St. Pauli.
(Titelbild: Peter Böhmer)

Zwischen Testspielen und Neuverpflichtungen für den Profi-Kader kam diese Meldung etwas zu kurz: Letzte Woche wurde eine Reform der Junioren-Bundesligen beschlossen. Dabei hat diese Meldung deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient, denn sie stellt für die Profivereine und deren NLZ-Konzepte eine womöglich einschneidende Veränderung dar, welche eine bessere Ausbildung für Jugendspieler bringen kann. Der FC St. Pauli hat an dieser wichtigen Reform erheblich mitgewirkt.

Langer Weg zur Reform

Was sollte das Ziel des Nachwuchsleistungszentrums des FC St. Pauli sein? Dass es gelingt Jugendspieler so gut auszubilden, dass sie früher oder später am besten im Trikot des FCSP Großes erreichen und nebenbei auch noch die bestmögliche Ausbildung erhalten, für den Fall, dass es nicht zum Fußballprofi reicht. Ich denke auf diesen Grundsatz können wir uns einigen. Nun stellt sich die Frage, wie man, von diesem Ziel ausgehend, die Ausbildung in den NLZ gestaltet. Der DFB hat sich in einem langwierigen Prozess (etwa fünf Jahre) zu einer Reform der Junioren-Bundesligen durchringen können, die einen massiven Einfluss auf die Ausbildung junger Spieler haben könnte, auch beim FC St. Pauli.

Die Reform, die Teil des „Projekt Zukunft“ vom DFB ist, sieht vor, dass U17- und U19-Teams aus den Nachwuchsleistungszentren ab der Saison 24/25 nicht mehr absteigen können. Nach einer Vorrunde werden die Teams je nach Tabellenstand in unterschiedliche Ligen aufgeteilt (Liga A und Liga B). Die besten Teams spielen am Saisonende weiterhin eine Finalrunde um die Deutsche Meisterschaft. Insgesamt elf Amateurteams sollen Teil der Liga sein.

Ergebnisse dominieren Ausbildung

„Die Ausbildung der Spieler in Deutschland ist aktuell verbesserungswürdig. Die Reform kommt wahrscheinlich fünf bis sieben Jahre zu spät“, sagt einer, der an diesem Prozess mitgewirkt hat: Benjamin Liedtke ist Leiter des NLZ des FC St. Pauli und Teil der Kommission, welche die Reform auf den Weg gebracht hat. In ein ähnliches Horn blies Joti Chatzialexiou, seines Zeichens Leiter des DFB-Nationalmannschaftsfußballs, der vergangene Woche auf einer Pressekonferenz zur Reform erklärte: „Wir haben im Ländervergleich den Anschluss an die europäische Spitze klar verloren, was aus unserer Sicht beängstigend ist.“ Das wäre ein massiver Rückschritt (aber ob das angesichts des just erst geholten U17-EM-Titels tatsächlich so dramatisch ist, sei mal dahingestellt), denn der DFB hatte mit der Einführung der NLZ Anfang der 2000er noch europaweit Maßstäbe in der Ausbildung gesetzt.

Ursächlich für diesen Rückschritt in der Qualität der Ausbildung sei die Struktur der Wettbewerbe, darin sind sich Chatzialexiou und Liedtke einig. „Der Ergebnis- und Erfolgsdruck ist riesengroß,“ sagt Liedtke dem MillernTon. Chatzialexiou nutzte in diesem Zusammenhang die passende neue Wortschöpfung „Misserfolgsvermeidungsstrategie“ und erklärte: „Viele Mannschaften haben sehr, sehr defensiv und destruktiv gespielt, um die Klasse zu halten.“

Wenn man nur kurz in das Thema eintaucht, wird eigentlich schnell klar, dass sich in der bisherigen Wettbewerbsform zwei Dinge diametral gegenüberstehen: Auf der einen Seite die individuelle Entwicklung der Spieler und auf der anderen der maximale Erfolg der Teams. Besonders dann, wenn es um Ergebnisse geht, zum Beispiel weil ein Abstieg droht, ist die individuelle Entwicklung von Spielern auch in den NLZ-Teams nur zweitrangig. Zu wichtig sei ein Bestehen in der Bundesliga, denn durch einen Abstieg in die Regionalliga drohe der Abgang vieler Talente. So habe sich auch die Arbeit in den NLZ’s über die Jahre verschoben. Zum Beispiel durch Gegneranalyse, aber vor allem den Ergebnisdruck von Woche zu Woche „geht der Fokus auf sich selbst, auf die individuelle technische und taktische Ausbildung verloren,“ erklärt Liedtke, der fortführt: „Es wird mehr auf Ergebnisse geschaut und weniger, wie sich die Spieler entwickeln“.

IMAGO / Lobeca Fußball, Saison 2022/23, Sonderspielrunde U19-Bundesliga, Hamburger SV - FC St. Pauli, Trainingsplatz am Volksparkstadion (Hamburg), 15.04.2023, 3. Spieltag Max Marie ( 23, Pauli), Leonardo Garcia Posadas ( 27, HSV) (Nur zur redaktionellen Nutzung.) Hamburg HSV-Campus / Alexander-Otto-Akademie, Sylvesterallee 7 Hamburg Deutschland *** Soccer, 2022 season 23, special match round U19 Bundesliga, Hamburger SV FC St Pauli, training ground at Volksparkstadion Hamburg , 15 04 2023, 3 match day Max Marie 23, Pauli , Leonardo Garcia Posadas 27, HSV For editorial use only Hamburg HSV Campus Alexander Otto Akademie, Sylvesterallee 7 Hamburg Germany Copyright: xIMAGO./Lobeca/RobertoxSeidel,xAllxrightsxnotxspecificallyxgrantedxarexreserved.x
Könnt ihr Euch vorstellen, dass bei dieser Begegnung, egal ob im Jugend- oder Erwachsenenbereich, jemals das Ergebnis unwichtig werden wird?
(IMAGO / Lobeca /via OneFootball)

Körperliche Vorteile bringen Erfolg, aber behindern Ausbildung

Ein Problem, welches bereits seit einiger Zeit Thema ist, nennt sich „Relative Age Effect“(RAE) – ein im Jugendsport ausgeprägtes Phänomen, welches dazu führt, dass ältere Jugendliche des gleichen Jahrgangs aufgrund körperlicher Vorteile auch eher Einsatzzeiten erhalten (u.a. nachzulesen bei Spielverlagerung.de). Der RAE wird laut Liedtke durch den Ergebnisdruck noch verschärft. Auch beim FC St. Pauli ist er deutlich ausgeprägt: In den U19-Kadern des FCSP der letzten fünf Jahre wurden gerade einmal 16% der Spieler in den letzten letzten vier Monaten (September – Dezember) eines Kalenderjahres geboren (eine Zahl um die 33% würde der Gesellschaft entsprechen). Ein rollierendes System, wie es z.B. in Belgien praktiziert wird, könnte diesen Effekt viel besser einfangen. Aber auch die jetzige Reform der Junioren-Bundesligen bietet die Möglichkeit, dass Spieler mehr Spielzeit erhalten, die spät im Jahr geboren wurden. Allerdings, schränkt Liedtke ein, sei der RAE im U15- und U16-Bereich viel krasser, weil sich dort die Jugendlichen körperlich noch stärker unterscheiden würden. Auf diesem Level gibt es aber (vorerst) keine Reform des Wettbewerbs.

Amateurvereine befürworten Reform

„Grundsätzlich sind wir alle sehr positiv gestimmt, weil es keinen closed-shop gibt,“ sagt Jasper Hölscher, Jugendkoordinator beim Eimsbütteler TV, zur Reform. Denn es gebe viele Amateurvereine „die großartige Arbeit leisten und damit ein wichtiger Baustein der Talentförderung sind“. Auch Hölscher ist überzeugt, dass „aktuell viel zu ergebnisorientiert gespielt wird und die Ausbildung zu kurz kommt.“ Einige Dinge müssen aber noch geklärt werden, die besonders für ambitionierte Amateurvereine relevant sind: Zum einen das Fortbestehen der Junioren-Regionalligen, aus denen sich in den letzten Jahren gleich eine ganze Reihe von Spielern noch zu Profis entwickelt haben. Zum anderen ist die Auf- und Abstiegsregelung aus den neuen obersten Spielklassen noch nicht final geklärt. Generell sind aber auch die Amateurvereine, für die es insgesamt elf Plätze in der neuen höchsten Jugend-Spielklasse geben soll, zufrieden mit der Reform, sofern die Feinheiten stimmen.

Was aber wird sich nun für die NLZ-Arbeit beim FC St. Pauli verändern? Bereits in den Vorjahren wurde versucht den Ergebnisdruck etwas zu lösen, Trainingsformen zu verändern – ein Vorteil, wenn man an der Reform mitwirken konnte. Wenn die Abstiegsangst nun wegfällt, dann könnte man als NLZ zum Beispiel einen Fokus auf die Ausbildung einzelner Positionen legen. Das klingt im ersten Moment komisch, aber im US-College-Football gibt es Universitäten, die den Ruf haben besonders gute Wide Receiver, Running Backs oder Defensivspieler auszubilden und entsprechend auch die besten Talente auf diesen Positionen damit zu sich locken können. Der FCSP setzt laut Liedtke aber auch zukünftig weniger auf die Entwicklung einzelner Spielertypen, sondern viel eher darauf, dass die Spieler generell in ihrer Kreativität gefördert werden.

Ein Schritt vorwärts, aber noch keine Lösung

Mit der Reform der Junioren-Bundesligen scheint der DFB einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen, so ist es von Profi- und Amateurvereinen zu hören. Ein weiteres Problem aber bleibt bestehen: Bereits im Juniorenalter kämpfen die Clubs um die besten Talente, werben diese mit teils unmoralischen Angeboten ab, sodass 15-jährige manchmal bereits die gesamte Familie ernähren können. Dabei zeigte sich, dass Spieler, die weniger häufig im Juniorenalter den Club wechseln eine höhere Chance haben es zum Profi zu schaffen. Andere Modelle, die Transfers im Juniorenalter erschweren, wie es sie in anderen Ländern gibt, könnten hier die Lösung sein und die Ausbildungsarbeit in den NLZ weiter verbessern.

Aus Sicht von Benjamin Liedtke ist die Reform der Junioren-Bundesligen aber auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Angst, dass der Wettbewerbsgedanke nun komplett fehlen wird, hat er nicht: „Natürlich wollen wir gewinnen und in diesen Ligen oben mitspielen. Diesen Impuls darfst Du den Spielern nie nehmen. Sie müssen Lust haben zu gewinnen, dürfen aber nicht Angst haben zu verlieren. Deshalb ist die Reform so wichtig.“

// Tim

Alle Beiträge beim MillernTon sind gratis. Wir freuen uns aber sehr, wenn Du uns unterstützt.

MillernTon auf BlueSky // Mastodon // Facebook // Instagram // Threads // WhatsApp // YouTube

Print Friendly, PDF & Email

4 thoughts on “Ausbildung contra Wettbewerb?

    1. Hmmmmnaja, aber anders, oder?
      Da wird die Bundesliga ja ersatzlos gestrichen und nicht wie hier umgebaut.
      Oder hat sich da was geändert? Ich hatte das vor ein paar Wochen mal in der Lage, suche ich nachher nochmal raus.

    2. Ich hoffe (und denke), A-Juniorinnen gibt es bald. Der Mädchen- und Frauenfußball entwickelt sich gerade unheimlich schnell und ist so stark geworden, dass man nicht mehr so einfach mit 16 oder 17 in den Erwachsenenbereich wechseln kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert