Thees: Bitte hau mir jetzt keine Rhein II – OKF und gebenedeit vor Gott

Thees: Bitte hau mir jetzt keine Rhein II – OKF und gebenedeit vor Gott

Kolumne von Thees Uhlmann

Es muss sublimiert werden. Das ist einem alles zu viel. Man kann auch einfach nicht mehr.
Das ist einem alles zu heftig zwischen Corona, Krankheiten, Konzerte, ausgefallenen Touren, arbeiten, Kindergelöte und den sonstigen Karambolagen des Lebens und wie das mit dem Verein ist, seit Timo Schultz da am Trainieren ist!

Man weiß nicht so richtig, was sublimieren genau bedeutet, aber das es gemacht werden muss, das ist klar. Irgendwie sich so doll innerlich schütteln, dass einem alles ein wenig klarer erscheint. Relativ früh in dieser Saison entdeckte ich mein Gefühl, dass ich in dieser Spielzeit soviel wie möglich mit dem Verein FC St. Pauli zu tun haben möchte, irgendwie.

Stumpf vielleicht

Da passte es wunderbar, dass Christoph, der auch St. Pauli Fan ist, seinen Job aufgab. So schlugen wir uns die Zeit, die Nachmittage bis hin in die mittleren Abendstunden in der Astra Stube Neukölln mit bekannten Konsequenzen um die Ohren. Herrlich ist das! Stumpf vielleicht, aber Seelenheil bringend. Vielleicht nicht für alle. Für uns aber auf jeden Fall, weil er ja nun wirklich vorher fast immer arbeiten musste. Jetzt saßen wir da und schauten so häufig wie es ging die Spiele unseres Lieblingsfußballvereins.

Es gibt ein wunderbares Foto von uns beiden nach einem Abend in der Astra Stube, welches ich selber machte, auf dem mein Freund gerade den Fahrradhelm schon auf habend, sich den Reißverschluss seiner Jacke zumacht und ich glückstrunken in das Objektiv schaue.

Auf dem Foto sieht es aus, als ob er seine Nackenmuskulatur nicht mehr unter Kontrolle hat, weil sein Kopf so nach vorne gesunken ist und ich sehe aus, als wäre ein Bierlaster durch mein Gesicht gefahren, aber ich schwöre, so schlimm war das gar nicht.

Es sieht so aus, aber so schlimm war es wirklich nicht. Das Foto schickten wir dann an seine Frau, damit sie weiß, dass für uns der Abend langsam zu Ende geht. Eine super Geste. Zärtlich schüchtern da, zu ihrer Teilhabe und zur Vorbereitung der Vorfreude seiner Rückkehr.

Und dann schrieb seine Frau Folgendes an mich zurück:
„Habt Ihr genug? Geht´s jetzt nach Hause?“

Tor!

Es gibt viele tolle Titel, die unter Bildern stehen. „Rhein II“ zum Beispiel unter dem Bild von Andreas Gursky auf dem er den Rhein fotografiert hat. Das ist doch klasse.
Oder der Titel von einem Bild von Martin Kippenberger: „Arbeiten bis alles geklärt ist!“

Genial. Und wahr ist es dabei wahrscheinlich auch.
Aber „Habt Ihr genug? Geht´s jetzt nach Hause?“ – das ist auf jeden Fall auch ganz weit oben mit dabei. Da haben wir uns wirklich sehr gefreut und freuen uns immer noch, dass wir das wissen, dass es diesen Satz von ihr gibt, zu unserem Bild. Und so rufen wir erfreut schon manchmal beim zweiten Bier uns gegenseitig zu: „Haben wir genug? Geht´s jetzt nach Hause?“
Liebe J., wir finden Dich super. Danke, dass es Dich gibt.
Das wird nochmal verwurstet. Das schwör ich euch, denn man muss arbeiten bis alles geklärt ist.

Drop out of Artschool

Viele Bilder heißen ja auch einfach nur „Oil on Canvas“. Was ich auch super finde, aber ich muss dann immer an die Skinheads St. Pauli denken, die ich sehr mag, wenn ich das lese und dass die doch mal ein Banner malen könnten auf dem steht: „Oi, ich kann was!“
Das kommt so Selbstermächtigungsmäßig rüber. So „DROP OUT OF ART SCHOOL“-mäßig. Lieben wir. Viele warme Grüße!
Endlich habe ich das aus meinem Hirn raus und konnte das mal aufschreiben.
Diese Sache wird eh immer schlimmer in meinem Kopf. Sich Fußballbanner Sprüche ausdenken, die niemals jemals auf ein Fußballbanner malen würde.
Gegen Hansa zum Beispiel: „Euer Bürgermeister sieht aus, wie einer von uns!“ Einfach nur so.
Für Wahrheit und Verwirrung.
Und gegen Sandhausen natürlich: „SANDHAUFEN!“

Einsam ist das Gipfeltreffen auf dem Hügel meiner Freuden. 

Zu Sandhausen übrigens noch eine Sache. Mein Freund Stefan, der sich „Carpe Diem Sandhausen“ nennt, hat den zweier Hattrick gebracht und war zu beiden Auswärtsspielen auf St. Pauli und nur bei einem wurde angepfiffen. Beim anderen ist er einfach hochgefahren und hat sich mit Frau und Freunden einen bunten Abend gemacht. Das finde ich super. 

Der Wirt der Astra Stube hingegen ist nicht gut durch die Pandemie gekommen. Finanziell geht sich das wohl alles irgendwie zum Glück aus, aber wurde man früher noch mit einem freundlichen „Heute wird´s was!“ oder „Schön, dass du mal wieder da bist!“ oder einem „Ist das Leben nicht schön!?“ oder einfach einer lange zurückliegenden St. Pauli Anekdote begrüßt, so heißt es heute nur noch „Was machst Du denn schon wieder hier, Du Gesicht!“ oder „Habt Ihr nichts Besseres zu tun, wie ich auch?“ oder einem „Man, man, man!“ begrüßt.

Mir gefällt es so natürlich viel besser, weil ich es liebe, wenn es schallert.
Absolutes Highlight der Ansagen der letzten Zeit war auf jeden Fall: „Heute nur vorne, hinten sind die Russen!“, weil im hinteren Raum „Schachtar Donezk“ gegen „Inter Mailand“ oder irgendwie sowas gezeigt wurde.
Das ist doch auch schon wieder so absurd super. Ich mein, wie geil kann ein Satz sein?

Ich kann es wirklich nur allen empfehlen, die mal ein WE in B verbringen, wenn St. Pauli läuft, es sich da anzuschauen. Ich liebe diesen Laden, ich verdanke ihm und ihm, dem Wirt sehr viel.

21745, aber als Steuernummer mit Metal Benni und Matti

Ich bemerkte, dass ich in dieser Saison viel mit „Pauli“ zu tun haben will. Und so kam es, dass ich an meine geliebte Plattenfirma, meine geliebten Kettcars und noch 3-4 andere Menschen Mitte September schrieb: „Wir fahren gegen Nürnberg! Ich organisier!“, was ein seltsamer Satz für einen Menschen ist, der schon strukturelle Probleme damit hat, Ansichtspostkarten zu lesen aus Angst, da könnte etwas Nettes hinten drauf stehen. Und stellen Sie sich dieses Problem mal mit Sichtfensterpost vor.

So war dann auch die Reaktion der meisten meiner Hamburger Freunde auf meine Nachricht. „Ja, mach du man!“ hieß es, und „Was ist noch mal deine Steuernummer? Nee, Thees, 21745 ist die Postleitzahl von Hemmoor. Das hat mit der Steuernummer nix zu tun! Hahaha, du Diddelgesicht!“

Und dann ging es los. Wenn Sie Fragen zu Buchungen bei meiner geliebten Bahn haben, fragen Sie mich ruhig unter ICE@ghvc.de!
Ich buchte eine Reise von Altona nach Nürnberg Hbf für 8,90 €uronen inklusive Sitzplatzreservierung pro Strecke. INKLUSIVE RESERVIERUNG! Also für 19.10 €uronen nach Nürnberg und zurück. Das bringt ja auch so Spaß, wenn so was mal so geil klappt.

Antwort aus HH: „Gibt´s nicht!“ Ich: Ticket Screenshot hingeschickt!
Die: „Uhliwitsch, Du altes Reisebüro! Genial!“

Nettes, eigentümergeführtes Hotel rausgesucht für den Tag, als eigentlich der Christkindlmarkt eröffnet worden wäre und das für einen super Preis.

Klar tragen wir immer noch voller Stolz unsere Bad Religion T-Shirts von 1992 mit dem durchgestrichenen Kreuz drauf, aber die Eröffnung des Christkindlmarktes an dem Wochenende, an dem der heilige FC St. Pauli in Nürnberg spielt, da kann auch der Atheist nicht Nein sagen. So auf jeden Fall das Ergebnis der repräsentativen Doodle-Umfrage bei der drei Leute aus der Reisegruppe mitgemacht haben.

Durch Mithilfe von Matti von den spitzenmässigen AKNE KID JOE für den Samstagabend noch die Speisegaststätte „Kniedlas Hüttn“ klar gemacht. Die lieben da die schwere fränkische Küche, die obergärigen Biere, aber haben mehr vegetarische und vegane Speisen im Angebot als ein Bio Restaurant im Prenzlauer Berg. Das muss man sich mal vorstellen.

Und dann hätte der Präsi noch um 12 Geburtstag gehabt und am nächsten Morgen noch mit Metal Benni und Basti und Matti zum Stadion mit Bierchen und alle Mann und Frau aus der Reisegruppe und dann noch Auswärtssieg und dann zurück zum HBF und ich hatte sogar schon eine Kiste fränkisches Bier gekühlt für das Gleis und die Fahrt (FÜR DAS GLEIS UND DIE FAHRT!!!) organisiert…!

Wenn ich für andere ein Essen organisiere, bringt es mir Spaß. Wenn ich für mich selbst koche, schmeckt es immer leicht nach Erbrochenem vom Vortag. Keine Ahnung wodran das liegt, wahrscheinlich hochneurotisch.

Und dann sind wir einfach nicht gefahren, mit objektivem Kopf, aber mit blutendem Herz.

Gab vorher 2-3 Coved Einschläge in der Nähe… und dann macht man das einfach nicht. Trainer ist auch nicht gefahren. Solidarität ist manchmal eine Sache, die man sich ausdenkt, damit man seinem eigenen Scheitern auf Augenhöhe begegnen kann, um es vor sich und anderen besser zu verkaufen.

Ich schrieb noch an Reimer beim 0:2: „Ach wie schön! Wiebusch wäre jetzt schon wieder OKF (Szeneausdruck für „oberkörperfrei“) auf’m Zaun und würde rumschreien.“ Und Reimer schrieb zurück: „Und dann würde Makienok auf ihn zu gerannt kommen und sagen: “Du siehst ja aus wie ich! Nur ohne Tattoos! Strålende!“ (Das ist dänisch für „Genial!“)
Da haben wir gelacht per SMS. Mit einem weinenden Auge, aber nicht als Smiley.

Das mit dem „Coved“ war eben übrigens kein Tippfehler! Wir schreiben „Coved“ seitdem einer der Veranstaltungsgruppe vom Schlachthof Wiesbaden, namentlich Dennis, nach einem Konzert zu uns sagte: „Der Coved, der Coved kricht uns ned klein!“
Das sagen jetzt ALLE. Jetzt auch Sie!

Wankend, denkend gebenedeit vor Gott

Lange ist es her, dass ich etwas über St. Pauli geschrieben habe, aber ich halte diese Freude zurzeit alleine in Berlin mit mir einfach nicht mehr aus. ICH HALTE DAS EINFACH NICHT MEHR AUS!

All diese kaputten Wochen in den letzten Jahren, in denen man… oder ich, man soll ja nicht „man“ sagen, man soll immer „ich“ sagen… bis Donnerstagabend nicht ins Internet konnte, weil man auf einen Sonntagnachmittag gegen die Schweine aus Dummsdorf-Hinterwulfertshausen 0:0 verloren hatte und man an einer Sache im Kern, an der Sache an sich und an sich selber zweifelte und das dann immer wieder lesen musste.

„Wenn Schulle rausgeschmissen wird, dann versuche ich da irgendwie rauszukommen!“, habe ich zu Marcus immer gesagt. Und Marcus meinte: „Du bist ein Spinnergesicht!“ Aber ich sagte: „Ich meine das ernst! Ich kann das nicht mehr. Wenn eine Sache nach all den Jahren plötzlich aus sich selbst heraus fundamentalen Sinn ergibt und scheint, und sie dann immer noch nicht funktioniert, dann muss man da vielleicht raus.“
„Man soll nicht man sagen!“, sagte Wiebusch dann und ich sagte: “Dann eben ich, Du Hoschie!“

Das ist wie mit der Liebe. Sie darf nicht nur Arbeit sein. Sie muss auch einfach mal Liebe sein.
Zur Erbauung, zur Freude, für Mut und als warmes Polster für die schlechten Zeiten.

„Zu schwach – zu wenig / Alles viel zu sehr gewollt / Das hier ist ein Ende!“ hat das die Band „Captain Planet“ mal vor Jahren für mich wunderbar zusammengefasst.

Hörte ich dann wankend auf dem Weg aus der Astra Stube nach Hause, blieb stehen, dachte nach, machte das Lied wieder von vorne an und dachte an all die Freundinnen und Freunde, die ganzen Geschichten, die ich wegen diesem Verein erlebt habe und wie denn das jetzt alles weitergehen soll… bis zum nächsten Wochenende und dann dachte ich genau das gleiche wieder von vorne. Über Jahre.

Nachdenkstelle

So lange, dass man dachte, das ist gar kein Gefühl mehr, das ist Normalität.

„So you can sleep and work and work and sleep then sleep then work then sleep(…)“ the King Blues – what if punk never happened.

Und jetzt das alles. Wilde Tage mit einem vollen Herzen voller Freude sind das für mich. „Gebenedeit vor Gott!“, schrie ich neulich nach einem Tor und ich glaube, dass das religiös, wie auch inhaltlich absoluter Schwachsinn ist, aber es fühlte sich richtig an.

Die freudige, selbstbestimmte Unterordnung unter einem größeren Sinnzusammenhang.
Nun gut, okay, „Geil! Eins null, Diggi!“, könnte man auch sagen, logo, aber, man muss auch arbeiten bis alles geklärt ist.

Und so macht das dann auch einfach jeder und jede auf die eigene Art und Weise.
Ich habe meinen lieben MillernTon gefragt, ob sie sich das vorstellen können, dass ich wieder was über St. Pauli schreiben darf und sie das okay finden und sie haben „Ja!“ gesagt.

Und so ist das dann eben einfach das. Aus einer der schönsten Zeiten, an die ich mich erinnern kann, St. Pauli-Fan zu sein.

Früher hätte Uwe Podratz hier die Kommata-, Sinn- und Rechtschreibung Fehler rausgemacht. Das darf auch nicht vergessen werden. Ich grüße Dich, mein lieber Freund, wo immer du auch gerade bist.
// Dein Thees

Nächstes Mal mit:

  • Auswärts in Dresden 2022
  • Derbysieg Februar 2021 ohne ein böses Wort
  • Schalke zuhause 
  • Szenenews
  • Top 10 – “aus der Astra Stube nach Hause Geh“- Hits
  • Interview mit Marcus Wiebusch oder so.

P.S.: Die Absage von Kniedlas Hueddn:

„Hallo Thees,
Schade das Ihr nicht nach Nürnberg kommt.
Vielleicht hat sich ja bis nächstes Jahr die aktuelle Lage verbessert und Ihr könnt euch dann, (wie wir Nürnberger sagen) den Ranzen voll haun. 🙂
Reservierung ist Storniert. 
Viele liebe Grüße und bleibt Gesund im schönen Norden 
Euer Kniedlas Hüddn-Team“ 

Man, ist das nett.

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5 thoughts on “Thees: Bitte hau mir jetzt keine Rhein II – OKF und gebenedeit vor Gott

  1. Danke Thees, dass du uns ein Stück mitnimmst in dein Gedanken- und Gefühlechaos. Man (ICH!!) fühlt sich verstandener, wenn ein anderer Verstand (haste gemerkt, oder? verstandener- Verstand) offenbar ähnliche Schleifen und Sprünge dreht. Synapsen-Pirouetten. Gefällt mir.
    Freue mich auf den nächsten Ausflug. 🙂

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