Der FC St. Pauli hat drei Spieler, die sich aktuell um die beiden Halbpositionen im Mittelfeld duellieren. Da eine Position an Marcel Hartel vergeben zu sein scheint, ist es momentan ein Konkurrenzkampf zwischen Finn Ole Becker und Jackson Irvine. Welcher der beiden in den Spielen zum Einsatz kommt, entscheidet sich dabei nicht nur aufgrund der individuellen Leistung, sondern ist auch vom Gegner und vom zu erwartenden Spiel abhängig.
(Titelbild: Peter Böhmer)
Es ist schon echt eine luxuriöse Situation, die die Verantwortlichen beim FC St. Pauli gerade haben: Für die beiden Halbpositionen in der Mittelfeldraute gibt es drei Spieler im Kader, die annährend gleichwertig zu sein scheinen. Das aber auf einem, für Zweitliga-Verhältnisse, ziemlich hohen Level. Abzusehen war diese Entwicklung im Sommer nicht unbedingt. Denn nach dem Weggang von Rodrigo Zalazar war die personelle Situation auf dieser Position richtig dünn. Erst später in der Vorbereitung kamen mit Marcel Hartel und Jackson Irvine noch zwei Spieler hinzu. Irvine laborierte jedoch erst einmal an einer Wadenverletzung. Als Finn Ole Becker dann verletzt ein paar Spiele ausfiel, war Irvine aber gerade noch rechtzeitig fit geworden. Seitdem stellt sich vor jedem Spiel die Frage: Spielt Irvine oder Becker auf der rechten Halbposition? Und warum spielt Marcel Hartel eigentlich immer? Ein Blick in die Daten gibt Hinweise auf die Antworten.
Marcel Hartel – Alleskönner mit Ladehemmung
Vor dem 3. Spieltag ist Marcel Hartel aus Bielefeld zum FC St. Pauli gewechselt. Seitdem hat er immer in der Startelf gestanden. Hartel besticht dabei mit enormer Ballsicherheit und passt wohl so gut wie sonst niemand auf die Halbposition in der Raute. Das zeigen auch die Daten:
Marcel Hartel ist in allen relevanten Offensiv-Statistiken besser als der Liga-Durchschnitt. Sei es sein Passspiel, seine Dribblings oder seine Torabschlüsse und Torschussvorlagen – in all diesen Statistiken ist Hartel ein Gewinn für den FC St. Pauli.
Dass er in den Defensiv-Statistiken nicht mit dem Liga-Schnitt mithalten kann, sollte niemanden beunruhigen, da die mir zur Verfügung stehenden Daten keine Trennung zwischen Halbpositionen und Sechsern zulassen. Die Durchschnittsdaten beziehen sich also auch auf einige Sechser. Dass Hartel aber nicht mit z.B. Afeez Aremu (der in einigen dieser Statistiken das Maß der Dinge ist) mithalten kann, sollte jedem klar sein. Entsprechend ist es bei dieser Betrachtung der Daten wichtiger, wie Hartel, Becker und Irvine im Verhältnis zueinander stehen.
Was in dieser Statistik nicht auftaucht, aber unbedingt beachtet werden muss: Marcel Hartel hat zwar schon sehr häufig den Abschluss gesucht, aber ein Tor hat er noch nicht erzielt. Das wäre so etwas wie das i-Tüpfelchen seiner ansonsten konstanten und starken Leistungen in Braun-Weiß. Dazu muss Hartel aber vermutlich auch ein wenig seinen Spielstil ändern oder zumindest im Kopf anpassen. Denn im Gegensatz zu seinen Mitspielern auf dieser Position agiert Hartel gerne als etwas tieferer Spielmacher. Er holt sich die Bälle tiefer ab und schafft damit Verbindungen nach vorne. Um häufiger gut in der Box oder um die Box herum positioniert zu sein und damit noch mehr Schüsse und Torschussvorlagen zu produzieren (er produziert schon sehr viele), muss er also noch etwas agiler werden, als er ohnehin schon ist, denn Hartel ist einer der laufstärksten Spieler der gesamten Liga.
Finn Ole Becker – Viel Ballbesitz? Viel Becker!
Aktuell frage ich mich bei jedem Vorbericht, ob der FC St. Pauli wohl mit Jackson Irvine oder Finn Ole Becker starten wird. Dabei zeigen gerade die letzten beiden Spiele, dass je nach Gegner gute Argumente für den einen oder anderen gibt. Im Fall von Becker werden die Argumente ziemlich deutlich, wenn man sich die Radar-Grafik anschaut:
Auch Finn Ole Becker zeigt, wie auch Marcel Hartel, in allen relevanten Offensiv-Statistiken in dieser Saison überdurchschnittlich gute Leistungen. In einigen Bereichen ist er sogar stärker, als der ebenfalls sehr starke Hartel. Becker ist nochmal ein Stück ballsicherer, wenn er ins Dribbling geht. Auffällig ist, dass Becker zwar weniger Pässe als Hartel spielt, aber diese eine höhere Güte haben. Denn Finn Ole Becker ist unfassbar stark, wenn es um Drucksituationen und öffnende Pässe geht. Das ist auch der Grund, warum viele ihm früher oder später den Schritt in die 1. Liga zutrauen. Becker spielt enorm viele sogenannte „smart passes“ und „through passes„. Das sind Pässe mit denen die gegnerischen Ketten überspielt werden, bei etwas gröberer Definition auch einfach sogenannte Schnittstellenpässe.
Besonders das Passspiel und sein Verhalten in engen Spielsituationen hebt auch Loïc Favé hervor: „Er hat seine Stärken mit dem Ball, kann schnell aus dem Druck rauskommen, wenn wir den Ball gewinnen. Er zeichnet sich nicht unbedingt durch Abschlüsse aus, aber spielt häufig den dritt- oder viertletzten Ball und ist immer anspielbar.„
Für das Vorankommen des Offensivspiels sind es genau diese Pässe, die enorm wichtig sind. Becker kann diese spielen (seine Quoten dabei sind nicht in der Grafik gezeigt, aber sie sind ebenfalls überdurchschnittlich gut) und ist damit ein enorm wichtiges Element im Offensivspiel des FC St. Pauli.
Nachholbedarf gibt es aber weiterhin im Bereich der eigenen Abschlüsse und auch bei den Torschussvorlagen. Das ist bereits zu Beginn der Saison Thema gewesen und im Vergleich zur Vorsaison war keine wesentliche Veränderung in seiner Spielweise zu erkennen. Das gilt auch nach fast der Hälfte der Saison. Die Daten zeigen, dass Finn Ole Becker weiterhin eher selten zu Abschlüssen kommt und noch seltener Torschüsse auflegt.
Das allein ist aber natürlich kein Grund, um ihn bei der Wahl der Startaufstellung außen vor zu lassen. Trotzdem muss Becker gerade im Vergleich zu Marcel Hartel, der ja auch noch Nachholbedarf in dem Bereich hat, hier mehr produzieren und seine Spielweise entsprechend anpassen. Sollte das passieren, dürfte es in der 2. Liga niemanden auf der Halbposition geben, der für sein Team wertvoller ist.
Der zweite Grund, warum Becker trotz seiner enormen Stärken nicht jedes Mal in der Startelf zu finden ist, sind seine defensiven Qualitäten. Zwar gewinnt Becker verhältnismäßig viele seiner Defensiv-Duelle, aber er führt vergleichweise wenige (seine Defizite im Kopfballspiel kann man ihm aufgrund seiner Körpergröße nicht vorwerfen). Beckers team-internes Problem: Beide Bereiche, in denen Becker Defizite hat, werden von einem anderen Spieler überdurchschnittlich gut ausgefüllt.
Jackson Irvine – Ein Mann für harte Fälle
Womit wir dann bei Jackson Irvine wären. Dessen Spielstil in Worte zu fassen und in Statistiken wiederzufinden, ist ziemlich schwer. Denn Irvine hat einen sehr unkonventionellen Spielstil und füllt die Rolle auf der Halbposition ganz anders aus, als alle anderen Spieler in der 2. Liga. Seine Radar-Grafik zeigt aber durchaus wichtige Statsitiken:
Jackson Irvine überzeugt im Vergleich zu seinen beiden Mitspielern auf der Halbposition vor allem durch seine defensiven Skills. Zwar weisen alle drei eine ähnlich gute Quote bei gewonnenen Duellen auf, aber Irvine führt erheblich mehr Duelle als Becker und Hartel. Damit ist er für den FC St. Pauli auf dieser Position enorm wertvoll. Zusätzlich kann Irvine auch im Bereich Kopfballspiel punkten. Allein dadurch scheint er aktuell in Spielen, die vom FC St. Pauli eine gewisse Physis verlangen, auf der Halbposition unersetzlich.
Genau diese Fähigkeiten hebt auch Loïc Favé hervor: „Jackson Irvine hat mehr defensiven Zugriff, wie man z.B. in der Aktion gegen Nürnberg gesehen hat, wo er mit ner Grätsche im Sechzehner wirklich richtig stark klärt. Er hat einfach auch noch ein bisschen mehr Physis und Kopfballstärke.„
Neben diesen defensiven Skills überzeugt Irvine auch offensiv. Er sucht selbst sehr häufig den Weg in die Box. Dabei schießt er zwar seltener als Becker und Hartel auf das gegnerische Tor, aber die xG-Werte sind sehr viel höher. Auch bei den Torschussvorlagen sind die Werte höher als die von Finn Ole Becker. Zudem weist er im Passspiel zwar in Anzahl weniger Pässe auf, aber bei den „wichtigen“ Pässen kann er durchaus mit Becker mithalten. Lediglich im Bereich Dribblings fällt er deutlich ab.
Was nicht in der Radar-Grafik auftaucht, aber ebenfalls eine Stärke von Irvine ist: Er spielt nicht selten den vorletzten Pass vor dem Tor. Mit 0.38 „second assists“ pro 90 Minuten führt er die gesamte Liga in dieser Statistik an. In dieser Statistik ist auch Becker vorne dabei (0.28 pro 90), Hartel hingegen hat noch keinen vorletzten Pass gespielt, der zu einem Tor führte.
Wie bereits beschrieben, definiert Irvine die Halbposition etwas anders als seine Mitspieler. Während Becker und vor allem Hartel häufig tief in die eigene Hälfte fallen, um die Bälle abzuholen, bleibt Irvine meist in höherer Position. Gerade dieser Unterschied in der Spielweise führt auch dazu, dass Irvine aktuell meist den Vorzug vor Becker bekommt. Denn dem Spiel des FC St. Pauli tut es gut, wenn sich auf den beiden Halbpositionen zwei Spieler befinden, die diese Position unterschiedlich interpretieren.
Hat Jackson Irvine nun also dauerhaft die Nase vorn im Duell mit Finn Ole Becker? Nein, hat er nicht. Sollte Becker häufiger selbst den Weg zur Box suchen und da effektiver werden, dann kann sich das ganz schnell drehen. Allerdings scheinen die Defensiv-Skills von Irvine zu wichtig, um auf ihn in der Startelf zu verzichten.
Der FC St. Pauli wird aber durchaus auf dieser Position rotieren. Das hängt dann nicht selten auch vom Gegner ab. Gegen Nürnberg waren die Defensiv-Skills von Irvine enorm gefragt. Der SV Sandhausen wiederum ist ein sehr tiefstehender Gegner, bei dem es darauf ankommt mit Dribblings und klugem Passspiel in engen Räumen voranzukommen – ein Setting, welches für keinen Spieler besser geschaffen ist, als für Finn Ole Becker. Aktuell scheint es also eine Arbeitsteilung von Becker und Irvine auf der rechten Halbposition zu geben.
Die Auswertung der Daten zeigt, dass sich der FC St. Pauli in einer absoluten Luxus-Situation bei der Auswahl der Spieler für die Halbposition befindet (nicht nur auf dieser Position – nächste Woche schauen wir mal ins defensive Mittelfeld). Während bei anderen Teams das System an die verfügbaren Spieler angepasst werden muss, welches dann nicht zwingend zum jeweiligen Gegner passt, kann der FC St. Pauli genau das Gegenteil tun. Das betont auch Loïc Favé: „Wir sind echt froh, dass wir zwei unterschiedliche Spielertypen und damit zwei unterschiedliche Optionen in der Raute haben und je nach Spiel und Gegner schauen können, was besser passt.„
Diese Rotation geschieht dann sogar ohne einen nennenswerten Qualitätsverlust. Sollten alle drei Spieler fit bleiben, ist das unfassbar wertvoll für den weiteren Saisonverlauf.
//Tim
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Sehr guter Artikel!
Mal wieder, weiter so.
Ich denke, dass Becker in der Winterpause wechselt, in die 1.Liga. Und das auch ein Grund ist, warum er weniger spielt. Wäre extrem bitter für die Truppe.
Schauen wir mal was passiert.
Da darf man echt gespannt sein. Ich frage mich aktuell, wer da im Winter Interesse/Bedarf hätte
Danke, mal wieder ne super spannende Analyse von Dir! Mehr davon.
Wie siehst Du denn den vierten im Bunde, also Buchtmann? Oder ist der für Dich eher ein 10er?
Mir ist klar, dass er zurecht etwas weiter Weg von der Startelf als die Drei hier vorgestellten ist, aber deine Einschätzung zu den Stärken und Schwächen von ihm würde mich tortzdem interessieren (insbesondere statische validiert, weil gefühlt jeder Fan ja ne Meinung zu Buchtmann hat).
Wie würdest Du aktuell während des Afrika-Cups aufstellen? (also wenn es bei Daschi bis dahin nicht 100% reicht)
Ich finde drei Spiele auf zwei Positionen, insbesondere bei potentiellen Verletzungen, nicht überbesetzt. Frage ist, wer noch die Position einnehmen kann, insbesondere falls Becker den Verein verlässt.
Da gab es ja bereits Andeutungen, dass es im Winter Vorgriffe auf den Sommer geben könnte.
Grundsätzlich können Buchtmann, Benatelli und Zander diese Positionen spielen. Da ist also noch etwas mehr Substanz vorhanden. Aber die drei genannten Spieler sind halt auf einem Top-Level der Liga