Der Hürzeler-Fußball

Der Hürzeler-Fußball

Seit Anfang 2023 ist Fabian Hürzeler Cheftrainer des FC St. Pauli und steht seitdem für Erfolg. Aber was ist eigentlich die Basis dafür? Was ist das „System Hürzeler“? Wir blicken tief hinein.
(Titelbild: Peter Böhmer)

Lange habe ich mich gewunden. Oft habe ich es nur angerissen und ganz selten tiefer beschrieben. Die Länderspielpause bietet aber die Gelegenheit, sich mal intensiv mit dem Fußball zu beschäftigen, den Fabian Hürzeler als Cheftrainer beim FC St. Pauli spielen lässt.

Vorweg: Alle Beschreibungen von Spielsystemen und Möglichkeiten sind idealisiert. Es ist nur ganz selten der Fall, dass sie wirklich exakt so auf dem Platz zu sehen sind. Oft gibt es kleine Unterschiede, weil sich einzelne Spieler aufgrund der Dynamik des Spiels anders verhalten. Das ist aber auch Teil der Philosophie von Fabian Hürzeler und allen weiteren Trainer*innen, die mit Prinzipien arbeiten (ich bin gar nicht sicher, ob es noch welche gibt, die das nicht tun). Und zwischen den einzelnen Formationen und Positionierungen gibt es natürlich ganz viele Übergangsphasen, die dann auch andere Einflüsse haben. So ist es quasi unmöglich das Spielsystem von Teams, gerade solch komplexen wie jenem des FCSP, in seiner ganzen Fülle zu beschreiben. Ich wage daher nur einen Annäherungsversuch, der aber auch schon sehr ausgiebig ist.

Defensive Grundordnung und Prinzipien

Gegen den Ball agiert der FC St. Pauli in einer 5-2-3-Grundordnung. Diese ist auf dem Platz aber erst zu sehen, wenn sich das Team darin anordnet, also dem Gegner etwas Zeit für den Spielaufbau zugestanden wird. Vorher, direkt nach Ballverlusten, wird sehr intensiv ins Gegenpressing gegangen. Selbst wenn der Ball dabei nicht gewonnen wird, so hat das Gegenpressing den Vorteil, dass Zeit gewonnen wird, um in die defensive Grundordnung zu finden.

Eine Frage der Einstellung

Entscheidend für die Defensivarbeit und einer der Schlüssel, warum das Team so stabil ist, sind die defensiven Umschaltphasen. Unter Hürzeler zeigt sich oft eine enorme Bereitschaft zum Umschalten. Nach Ballverlusten ist viel Dynamik auf dem Platz zu erkennen, weil alle FCSP-Spieler sofort versuchen hinter den Ball zu kommen. Diese Bereitschaft hat dann oft schon Züge von Atletico Madrid, die unter der Leitung von Diego Simeone oft im Vollsprint in die Defensive umschalten und so sehr schwer zu knacken sind.

Um so zu agieren braucht es vor allem die mentale Seite. Ballverluste sind eigentlich eine ätzende Angelegenheit. Da hat man sich mühevoll ins letzte Drittel des Gegners vorgespielt und binnen Bruchteilen ist die Arbeit futsch, der Frust könnte entsprechend groß sein. Fabian Hürzeler hat es geschafft trotz dieser Ballverluste, die halt einfach zum Fußball dazugehören, eine große Bereitschaft zur Defensivarbeit im Team zu aktivieren.

Fast alle Spieler betonten im Verlauf der Rückrunde, dass sie großen Spaß an der Arbeit gegen den Ball haben. Hürzeler erzählte kürzlich, dass man im Training gelungene Defensivaktionen besonders abfeiere, damit eben auch bewusst wird, dass gutes defensives Umschalten, ein erfolgreicher Zweikampf oder ein abgefangener Pass, genauso viel wert ist, wie erfolgreiche Offensivaktionen. Die mentale Bereitschaft zur Defensivarbeit macht also einen großen Teil der Stabilität des FC St. Pauli aus. Aber natürlich nicht nur.

Hamburg, Deutschland, 27.08.2023, 2. Bundesliga, Fussball - Jackson Irvine (FC St. Pauli) im Zweikampf mit Dennis Heber (1. FC Magdeburg) - Copyright: Peter Boehmer DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video.
Nicht nur Zweikämpfe gewinnen, sondern erstmal in die defensiven Zweikämpfe kommen – das verlangt eine große Laufbereitschaft des FCSP
(c) Peter Boehmer

Frankfurter Fünfer-Block verhindert Zentrumsaufbau

Kommen wir zurück zur Grundordnung: Der FCSP findet sich defensiv in einem 5-2-3 zusammen. Dieses Verhalten orientiert sich initial, wie Fabian Hürzeler vor dem Braunschweig-Spiel selbst erzählte (ab Minute 16:30), am Defensivverhalten von Eintracht Frankfurt unter Oliver Glasner. Die Abwehrreihe bildet dabei eine ganz klar erkennbare Fünferkette. Davor bilden die beiden Mittelfeldspieler (in diesen Momenten oft auch mit Mann-Orientierungen agierend) zusammen mit der offensiven Dreierreihe einen stark zusammengezogenen Block. Dadurch verhindert das Team einen Aufbau des Gegners durch das Zentrum und bietet ganz bewusst Räume für den Pass zum gegnerischen Außenverteidiger, welches dann die zweite Phase des Defensivverhaltens auslöst.

Zwei Phasen bis zum Angriffspressing

Spielt das gegnerische Team den Ball auf die Außenbahn, so löst sich der Fünfer-Block des FC St. Pauli auf. Die beiden offensiven Außen fallen etwas tiefer und breiter, sodass sich ein situatives 5-4-1 bildet. Der Mittelstürmer bewegt sich ebenfalls auf die Seite, orientiert sich dabei am ballnahen Innenverteidiger. Die Wege um in diese Grundformation zu kommen, sind relativ kurz, weshalb sich oft schnell eine Überzahlsituation in Ballnähe generieren lässt (durch den eigenen Schienenspieler, den offensiven Außen und den ballnahen Achter). Der gegnerische Außenverteidiger sieht sich also einem Druck von vielen Seiten ausgesetzt und könnte sich genötigt fühlen einen Pass zurück zum Innenverteidiger zu spielen. Das ist oft ein Auslöser für die nächste Phase des Defensivverhaltens des FC St. Pauli.

Defensivverhalten des FC St. Pauli
links: Wenn der Gegner kontroliiert aufbaut, ziehen sich Mittelfeld und Angriff des FCSP zu einem Fünfer-Block zusammen, der Pässe durch das Zentrum verhindert.
rechts: Sobald der Ball nach außen gespielt wird, entwickelt sich aus dem Fünfer-Block eine Viererkette, der FCSP bildet dann ein 5-4-1, welches den Raum stark verknappt und dann in der Folge oft in ein Angriffspressing übergeht.

Denn oft befinden sich in dieser Bewegung die gegnerischen Spieler selbst in einer Rückwärtsbewegung – nicht die optimale Art und Weise, um das Spiel kontrolliert aufzubauen. Der FCSP (und auch viele andere Teams – das Rad wurde ja nicht neu erfunden) löst dann sein eigenes Angriffspressing aus. Dabei agiert das Team nun sehr mannorientiert. Zuvor ist dies eigentlich nur im Achterraum der Fall, nun werden die gegnerischen Spieler aber direkt angelaufen, auch der ballnahe Schienenspieler rückt mit vor, wenn es optimal läuft, je nach gegnerischer Formation auch der ballferne Schienenspieler.

Ganz schwer zu knacken

Die Gegner können sich aus diesem Pressing, wenn optimal vom FCSP ausgespielt, oft nur auf zwei Arten befreien: Entweder schlagen sie einen langen Ball, was nach dem direkten Ballgewinn für den FC St. Pauli der zweite Erfolg ist. Denn der Fünfer-Block und das konzentrierte ballnahe Verhalten hat den Vorteil, dass der FCSP in vielen Situationen eine Überzahl in letzter Linie halten kann.
Die zweite Art der Befreiung ist dann eher ein Problem. Denn wenn es gegnerischen Teams gelingt in hoher Geschwindigkeit auf die ballferne Seite zu verlagern oder, noch schlimmer, im Achterraum trotz Gegnerdrucks anspielbar und durchsetzungsstark ist, dann ist das Pressing des FC St. Pauli durchbrochen. In diesem Fall läuft das gegnerische Team direkt auf die Fünferkette des FCSP zu.

Das Durchbrechen des Pressings gelingt gegnerischen Teams aber selten. Der FC St. Pauli ist, wenn er sich erst einmal in seiner Grundordnung gefunden hat, nur ganz schwer zu knacken. Die niedrige Anzahl an gegnerischen Torschüssen (Platz 2) und gegnerischen xG-Werten (Platz 1) nach fünf Spieltagen belegen das.
Bleiben noch die Umschaltmomente. Doch hier greift wieder die Bereitschaft zur Defensivarbeit, die Bereitschaft schnellstmöglich hinter den Ball zu kommen, welches sich unter anderem an der Anzahl intensiver Läufe zeigt, wo der FCSP zusammen mit Elversberg aktuell deutlich die Spitze der Liga bildet (Zahlen von Bundesliga.de).

Offensive Grundordnung und Prinzipien

Wirklich gut ist das Offensivspiel, wenn man gar nicht genau sagen kann, was eigentlich die Abläufe des Teams sind, wie die Laufwege geplant sind. Als der FC St. Pauli in der Hinrunde 21/22 die gesamte Liga mit seiner Mittelfeldraute schwindelig spielte, war das der Fall – da konnte ich gar nicht genau sagen, wie die offensiven Abläufe sind. Weil dazu einfach keine Vorgaben existierten. Denn im Offensivspiel arbeiten ballbesitzorientierte Teams mit Prinzipien, die den Spielern Grenzen setzen, in denen sie sich frei bewegen können.

Frei in vorgegebenden Rahmen

Auch Fabian Hürzeler tut das: „Ich gebe den Spielern kein Schema vor. Sie können in ihren Prinzipien arbeiten und dürfen bestimmte Räume frei belaufen,“ erklärte er auf der Pressekonferenz vor dem Braunschweig-Spiel.
Dadurch erhofft sich der 30-jährige Cheftrainer, dass es für die Gegner keine erkennbaren Spielzüge gibt, auf die man sich explizit vorbereiten kann. Die geltenden Prinzipien sollen den eigenen Spielern zudem „Orientierung und Sicherheit geben, um auch unter Raum-, Zeit- und Gegnerdruck Lösungen zu finden.“

Auch die Spieleröffnung ist flexibel. Hürzeler hat seinem Team eine Grundordnung vorgegeben, aus der es mehrere Optionen besitzt, um initial zu eröffnen. Hierbei geht es darum, dass die Gegner nicht wissen, wie sie sich dagegen positionieren müssen. Die Eröffnung ist so verschieden, dass es von den Gegnern krass unterschiedliche Verhaltensweisen verlangt. Hürzeler erklärt:

„Das Wichtigste ist, dass sich der Gegner nicht vorbereiten kann und da keine Muster erkennt in der Spieleröffnung. Klar, die Positionierung ist immer relativ ähnlich, aber die Mischung muss stimmen. Mal ist es ein langer Chipball auf den Zielspieler, mal ist es das Spiel durch das Zentrum, mal über die Außen.“

Fabian Hürzeler zu seinen Prinzipien im Offensivspiel

Was aber relativ klar beim FC St. Pauli zu erkennen ist, ist die Positionierung der Spieler bei der Phase der Spieleröffnung. Diese hat zur neuen Saison eine kleine Reform durchgemacht. Zuvor waren verschiedene Verhaltensweisen zwar auch bereits erkennbar, aber auch klar abhängig vom enorm dominanten Leart Paqarada, der oft den Weg ins Zentrum suchte und von dort aufbaute. Nun hat das Team sich Spieler-unabhängige Verhaltensweisen erarbeitet.

Grundsätzlich haben sich zuletzt zwei verschiedene Positionierungen herauskristallisiert. Eine ist die Weiterentwicklung der Eröffnung von letzter Saison. Die andere orientiert sich relativ stark an der Grundordnung, die Roberto de Zerbi äußerst erfolgreich bei Brighton & Hove Albion spielen lässt.

Besetzung aller Halbräume – Grundordnung 2-3-5

In den Vorbereitungsspielen agierte der FC St. Pauli sehr oft mit einem 2-3-5 in der Spieleröffnung. Dabei schiebt der zentrale Innenverteidiger (meist Eric Smith) in den Sechserraum. Flankiert wird er in den defensiven Halbräumen von den beiden Schienenspielern, die ihre Position auf der Außenbahn also auflösen. Die beiden Sechser (meist Irvine und Hartel) bewegen sich in die offensiven Halbräume, während die offensiven Außenspieler an der Seitenlinie kratzen und sich ein wenig nach hinten orientieren.

Bei dieser Eröffnung bieten sich dem FC St. Pauli mehrere Möglichkeiten: Eine ist die Bildung eines Dreiecks zwischen dem Innenverteidiger, dem Sechser und dem Schienenspieler (das ist dann das von Hürzeler genannte „Spiel durch das Zentrum“). Das ist die einfachste Variante und der Gegner bekommt sofort Probleme, wenn es gelingt. Denn bei diesem Dreieck ist am Ende der Schienenspieler aufgedreht (also mit Blickrichtung zum gegnerischen Tor) im Halbraum. Das wird inzwischen oft verhindert von den Gegnern, besonders wenn diese stark mannorientiert agieren.

Hamburg, Deutschland, Juli 2023 - Cheftrainer Fabian Hürzeler (FC St. Pauli) gibt Anweisungen im Spiel gegen Hapoel Tel Aviv - Copyright: Stefan Groenveld
Fabian Hürzeler hat den FC St. Pauli zu einem spieldominanten Team entwickelt.
(c) Stefan Groenveld

Fokus auf Außen

Es gibt aber noch einen weiteren initialen Pass, der den Gegner bei diesem 2-3-5 vor Probleme stellen kann: Durch das Einrücken der Schienenspieler und die leicht nach hinten abgesetzte Positionierung der offensiven Außenbahnspieler, bietet sich auch der direkte Passweg auf die offensive Außenbahn an. Hapoel Tel Aviv agierte gegen den FC St. Pauli im Pressing derart unvorbereitet, dass dieser Pass quasi nie zu verhindern war und so eröffnete Karol Mets stets fröhlich das Spiel mit einem Pass auf Elias Saad, der dann direkt ins 1-gegen-1 gehen könnte. Das ist das von Hürzeler genannte „Spiel über die Außen“, welches dann ausgelöst wird.

Wenn es dem FC St. Pauli gelingt seine offensiven Außenspieler so an den Ball zu bekommen, dass sie nur einen Gegenspieler vor sich haben und mit dem Rücken zur Seitenlinie stehen, dann kann der FCSP in diesem Raum Überzahlsituationen bilden. Denn im 2-3-5 ist einer der Achter bereits in diesem Raum positioniert, bindet also mindestens schonmal einen Gegenspieler. Durch den dann nachrückenden Schienenspieler wird dann die Überzahl generiert, wenn alles perfekt läuft. Oft geht es auch direkt ins Dribbling. Saad und Afolayan liegen ligaweit auf Platz eins und drei bei der Anzahl an Dribblings (für Spieler mit mehr als 200 Minuten Spielzeit) und gewinnen beide starke rund 50% ihrer Duelle.

Und sowieso bieten sich aus dieser Positionierung unfassbar viele Optionen. Da zum Beispiel Saad als „inverted winger“ agiert, also als Rechtsfuß auf der linken Außenbahn, kann er bei seinem Weg ins Zentrum vor- oder hinterlaufen werden vom Schienenspieler oder Achter, der dann durch die Überzahl in Flankenposition kommt. Flanken kann aber auch Saad selbst, wenn er in den Halbraum abgekippt ist. Dabei wird vor allem die Kombination auf den einlaufenden ballfernen Achter (in diesem Fall Irvine) eine Gefahr für das gegnerische Tor und es gab diese Saison schon mehrere solcher Abschlussmöglichkeiten.

Offensive Grundordnung des FC St. Pauli und zwei verschiedene Positionierungen im Spielaufbau.
links: In der Grundordnung bildet der FC St. Pauli ein 3-4-3. Aus dieser bilden sich sowohl defensive, als auch offensive Formationen.
rechts oben: Beim Aufbau im 2-3-5 schieben der zentrale Innenverteidiger und die beiden Sechser je eine Position vor, werden also Sechser und Achter. die Schienenspieler rücken in die defensiven Halbräume, die offensiven Außen besetzen die Breite, sodass im Zentrum leicht eine Überzahl generiert werden kann.
rechts unten: Beim Aufbau im 2-4-4 schiebt nur ein Sechser nach vorne (Hartel), der andere bildet zusammen mit dem zentralen Innenverteidiger (Smith) eine Doppelsechs und damit den Versuch eine Überzahl im Zentrum zu generieren. Gelingt das nicht, bedingt diese Aufbauvariante Platz im Zehnerraum, welcher durch Chipbälle erreicht werden kann.

„de Zerbi-Adaption“ – Grundordnung 2-4-4

Zuletzt hat sich immer häufiger eine weitere Positionierung beim Spielaufbau des FC St. Pauli gezeigt. Das Team ordnet sich bei Ballbesitz in einem 2-4-4 an. Als Vater dieser Spieleröffnung wird Roberto de Zerbi genannt, der es mit Brighton & Hove Albion letzte Saison sensationell in die Europa League schaffte. Diese Spieleröffnung, welche den Aufbau durch das Zentrum forciert, wird gerade enorm abgefeiert. Pep Guardiola bezeichnete de Zerbi gar als „einflussreichsten Trainer der letzten 20 Jahre“.

Beim Aufbau des FC St. Pauli in einem 2-4-4 agieren Jackson Irvine und Eric Smith als Doppelsechs. Auf einer Linie mit ihnen stehen die beiden Schienenspieler. Der zweite Achter (Marcel Hartel) rückt nach vorne ins Sturmzentrum, leicht diagonal abgesetzt neben dem Zielspieler. Die offensiven Außen stehen erneut ganz breit, nahe der Seitenlinie. Durch die Doppelsechs ergeben sich viele Passoptionen im Zentrum, sodass ein Aufbau durch das Zentrum möglich ist. Unterschied zu de Zerbi: Nikola Vasilj ist nicht ganz so intensiv mit eingebunden in das Spiel, wie es der spielstarke Torhüter Robert Sanchez bei Brighton letzte Saison war.

Lockrufe, um zu Überspielen

Bei diesem Aufbauspiel geht es vor allem darum den Gegner zu locken, ihn aus einer tieferen Positionierung in eine höhere zu locken. Das wird dann auch mal durch sehr langsame Bewegungen versucht, die den Eindruck einer gewissen Tüddeligkeit erwecken. Das Problem für die Gegner: Entweder sie müssen mit sechs Spielern hoch anlaufen oder sie haben eine Unterzahl im Sechserraum. Beides bietet dem FC St. Pauli Vorteile.

Der Vorteil einer FCSP-Überzahl im Sechserraum dürfte logisch sein. Der Vorteil, wenn der Gegner mit sechs Spielern hoch ins Pressing einsteigt, erklärt, warum Andreas Albers so wichtig für den FCSP ist. Die vielversprechendste Option mit der Eröffnung durch einen „Chipball auf den Zielspieler“, von der Hürzeler sprach, ergibt sich nämlich dann, wenn der Gegner hoch presst. Denn hinter der eigenen Doppelsechs und vor der letzten Kette des Gegners ergeben sich geradezu paradiesische Räume, die durch einen Chipball und passende Ballverarbeitung erreicht werden können. Um ganz vorne dann noch mehr Räume zu erreichen, zeigen zum Beispiel Hartel und Albers oft gegenläufige Bewegungen: Albers lässt sich in den Zehnerraum fallen und Hartel startet tief durch. Auch die offensiven Außen bieten Tiefenläufe ins Zentrum an, im Handball würde man sie ganz klassisch als „Einläufer“ bezeichnen.

Auch Spielaufbau bedingt defensive Stabilität

Die Optionen des FC St. Pauli in der Spieleröffnung sind also vielfältig. Das Team wechselt während der Partie auch einfach mal durch, probiert es sowohl im 2-3-5, aber auch im 2-4-4 und auch mal mit Smith, der einfach zwischen den Innenverteidigern stehen bleibt, sodass die Schienenspieler weit hoch schieben können.

Viele Gegner sind mit dieser Vielfalt überfordert, die der FCSP im Spielaufbau anbietet. Der 1. FC Magdeburg versuchte sich im hohen Pressing, resignierte aber im Verlauf des Spiels. Fortuna Düsseldorf und Eintracht Braunschweig versuchten erst gar nicht den initialen Spielaufbau zu stören, schenkten quasi ab und zogen sich tief zurück. Dadurch berauben sie sich den eigenen offensiven Umschaltmomenten, weil sie Ballgewinne oft nur in Zonen haben, in denen sie eigentlich gar nicht den Ball gewinnen wollen, um offensiv umschalten zu können. Und da der FC St. Pauli defensiv sehr sicher steht, wenn sie sich in ihrer Grundordnung eingefunden haben, ergibt sich aus den offensiven Spielideen und Prinzipien von Fabian Hürzeler eine defensive Stabilität, wie es sie beim FCSP selten bis nie gegeben hat.

Braunschweig, Deutschland, 01.09.2023, 2. Bundesliga, Fussball - Elias Saad erzielt das 1:0 für den FC St. Pauli. Danilo Wiebe (Eintracht Braunschweig) kann es nicht verhindern - Copyright: Peter Boehmer DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video.
Räume finden gegen tiefstehende Gegner – die Königsdisziplin in der 2. Bundesliga. Der FC St. Pauli versucht dies mit einem sehr kontrollierten Spielaufbau.
(c) Peter Boehmer

Laufbereitschaft notwendig

Wie auch im Spiel gegen den Ball verlangt das Offensivspiel des FC St. Pauli die Bereitschaft der Spieler läuferisch an die Grenzen zu gehen. Anders kann es nicht funktionieren. Selten werden Spieler auch mit Pässen gefunden, wenn sie Tiefenläufe machen und ganz allgemein Räume belaufen. Oft geht es (nur) darum, dass sich Räume für die Mitspieler öffnen oder darum den Gegner in Bewegung zu bringen. Denn das gute Positionsspiel bringt nichts, wenn sich der Gegner kaum bewegen muss.

Entsprechend ist dies auch eine der Schwachstellen des Aufbauspiels mit den vielen Rotationen. Nur wenn die Spieler des FCSP dynamisch agieren, sich viel bewegen, wird der Gegner vor Herausforderungen gestellt und macht Fehler. In zwei Partien dieser Saison (Kaiserslautern und Fürth) gab es bereits den Fall, dass die Positionierung passte, aber aufgrund keiner oder zu wenig dynamischen Bewegungen in vorderer Reihe, keinerlei Gefahr davon ausging. Das Spiel wirkt und wird dann sehr schnell steif und völlig harmlos. Andere taktische Herangehensweisen verlangen da wesentlich weniger Einsatz von den Spielern.

Hoher taktischer Anspruch an Spieler

Zwei weitere Schwachpunkte gibt es:
1. Individuelle Fehler im Spielaufbau sind ein Killer für jedes System, klar. Wenn ein Team nun aber, wie der FCSP, nahezu konsequent von hinten flach aufbauen möchte, dann können Fehler umso schneller und umso härter bestraft werden. Da hilft dann auch die größte Bereitschaft in defensiven Umschaltmomenten nichts, wenn der Gegner in kritischen Zonen den Ball bekommt. Hier geht es darum, die richtige Balance zu finden zwischen dem Risiko, welches genommen werden muss, damit sich Räume öffnen und der bestmöglichen Konterabsicherung. Der technische und mentale Anspruch an die Spieler, die den initialen Aufbau betreiben, ist auf jeden Fall enorm hoch.

2. Es ist nicht nur wichtig viel, sondern auch richtig zu laufen. Da geht es um die Abstimmung mit den Mitspielern (z.B. bei gegenläufigen Bewegungen oder Timing der Pässe), aber auch darum, im richtigen Moment die richtigen Räume zu belaufen. Erneut zeigt sich, dass der Anspruch an die Spieler enorm hoch ist. Und diese Abstimmung, dieses Timing ist, besonders bei tiefstehenden Gegnern, sehr schwierig. Womit wir bei einem ganz aktuellen Thema wären.

Umgang mit tiefstehenden Gegnern

Der FC St. Pauli hat sich unter Fabian Hürzeler also zu einem sehr dominanten Fußballteam entwickelt. Zwar keines, welches regelmäßig 70% oder mehr an Ballbesitz hat, weil es defensiv nicht direkt hoch presst. Aber eines, welches nur ganz, ganz selten, die Spielkontrolle abgibt und die Bälle verliert (das Team hat die wenigsten Ballverluste aller Zweitligisten). Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung.

Dieser Spielstil bedingt also fast automatisch, dass sich der FC St. Pauli oft mit gegnerischen Teams auseinandersetzen muss, die sehr tief stehen. Interessant ist, wie klar das für die Beteiligten ist. Eric Smith erklärte nach der Partie gegen Fortuna Düsseldorf: „Ich denke fast alle Teams werden diese Saison so tiefstehend gegen uns agieren.“
Und diese dominante Spielweise ist kein Zufall, keine nicht absehbare Entwicklung, sondern war bereits vor der Saison so erwartet worden, wie Andreas Bornemann nach dem Braunschweig-Spiel sagte: „Das ist unsere Art. Wir haben gesagt: So wollen wir Fußball spielen. Und da sind wir auch überzeugt, dass das geht.“

Hamburg, Deutschland, 27.08.2023, 2. Bundesliga, fussball - Fabian Hürzeler und Andreas Bornemann, Trainer und Sportcehf des FC St. Pauli, vor dem Spiel gegen den 1. FC Magdeburg - Copyright: Peter Boehmer DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video.
Fabian Hürzeler und Andreas Bornemann sind überzeugt davon, dass der FC St. Pauli mit einem stark Ballbesitz-orientierten Fußball in der 2. Bundesliga eine erfolgreiche Saison spielen kann.
(c) Peter Boehmer

Letzter Baustein: Spiel im letzten Drittel

Trotzdem stehen nach fünf Ligaspielen nur sieben Punkte auf dem Konto des FC St. Pauli. Hat die ganze Spielkontrolle, haben die vielen verschiedenen taktischen Optionen ihren Zweck also bisher nicht erfüllt? Es ist aus meiner Sicht eher eine Frage der individuellen Qualität und hat natürlich auch damit zu tun, dass man dann auch etwas Pech hatte (der FCSP erzielte bisher drei Treffer, bei einem xG-Wert von 7.2).

Das Spiel im letzten Drittel, vor allem ganz nahe am gegnerischen Tor, ist der letzte Baustein, das letzte Puzzleteil, welches dem FC St. Pauli noch fehlt. Fabian Hürzeler betonte nach dem 0:0 zuhause gegen Magdeburg ganz offen, dass er genau dort noch Raum für Verbesserungen sieht. Hierbei ging es ihm aber eher um die Entscheidungsfindung der Spieler, nicht um systematische Probleme. Denn zum Beispiel die Boxbesetzung und auch die Raumaufteilung passt eigentlich. Das Team tut sich in diesen engen Räumen aber schwer Lösungen zu finden. Bisher hat sich da diese Saison, abgesehen von Elias Saad in einigen Momenten, noch niemand hervorgetan, der aufgrund individueller Klasse den Unterschied macht (wie es vor zwei Jahren Kyereh machte).

Der Aufwand muss sich lohnen

Bevor aber das gesamte System, die gesamte Spielidee infrage gestellt wird: „Es ist dann natürlich die höchste Kunst, gegen Gegner, die auch zu Hause kompakt und tief stehen, Lösungen zu erarbeiten und zu Toren zu kommen,“ sagte Bornemann nach dem Spiel in Braunschweig. Keinem Zweitligist gelingt es sich gegen tiefstehende Gegner permanent hochkarätige Chancen zu erspielen. Nicht mal in der ersten Liga ist das der Fall, abgesehen vom FC Bayern München, der das aber vorrangig mit überragender individueller Qualität und nur bedingt mit spieltaktischer Finesse löst. Angesichts des Chancenplus, welches sich der FCSP in den bisherigen Spielen erarbeitet hat und der weiter vorhandenen defensiven Stabilität, ist es eine Frage der Zeit, bis sich das Team für den Aufwand belohnt.

Das muss aber irgendwann auch geschehen, sonst droht der Ansatz ins Wanken zu geraten. Denn der Spielstil basiert zu großen Teilen auf der Laufbereitschaft von Spielern, welches eng mit dem Vertrauen und dem Glauben an das Funktionieren des Systems verknüpft ist. Die Aussage „Siege sind durch nichts zu ersetzten“ von Ewald Lienen geistert mir dabei durch den Kopf.

Der „Hürzeler-Stil“

Fabian Hürzeler betont zwar: „Wir können keinen Spielstil kopieren, weil wir andere Spieler haben,“ aber eben auch, dass er „Trends“ verfolgt und es wichtig findet „über den Tellerrand hinaus zu schauen.“ Dabei hat sich der 30-jährige verschiedene Dinge bei anderen Teams abgeschaut. Defensiv unter anderem bei Eintracht Frankfurt, offensiv auch bei Roberto de Zerbi.

Fußball-Deutschland blickt auf St. Pauli

Trotzdem hat der FC St. Pauli einen ganz eigenen Spielstil, den „Hürzeler-Stil“ sozusagen. Dieser ist klar von der Maxime der defensiven Stabilität geprägt, das betont Hürzeler selbst immer wieder. So ist es wenig verwunderlich, wenn das Team in offensiven Bereichen noch das größte Potenzial zur Weiterentwicklung besitzt. Das Spiel des FCSP wird ausgehend von der defensiven Stabilität, die auch durch das Aufbauspiel entsteht, weiterentwickelt.

Auch wenn es ergebnistechnisch aktuell nicht ganz perfekt läuft, so ist es Fabian Hürzeler gelungen den FCSP zu einem Team zu entwickeln, welches seine Gegner oft stark unter Kontrolle und für jede gegnerische Spielweise Lösungen parat hat. Eine Entwicklung, die nicht nur Trainer-Kollegen der 2. Liga wertschätzen (SGF-Trainer Zorniger zum Beispiel), sondern auch in der Bundesliga beobachtet wird (Abendblatt (€) vom Juni 2023). Daher ist der FC St. Pauli aktuell sicher eines der interessantesten Teams und Hürzeler einer der spannendsten Trainer im deutschen, wenn nicht sogar europäischen Fußball.

// Tim

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8 thoughts on “Der Hürzeler-Fußball

  1. Schöne Analyse, gerade wenn man schon wieder lesen muss der Trainer ist entschlüsselt usw. Ich glaube nämlich nicht, dass dies der Fall ist sondern die anseren Teams jetzt von ihrem Spiel abweichen, um nur zu verhindern, aber nicht aktiv teilzunehmen. Und mit Simon Zoller ist sicherlich ein weiterer Baustein für die Unberechenbarkeit bzw. Flexibilität dazugekommen. Aber ein Zoller wird uns auch mit 10+x Toren nicht helfen, wenn das Mittelfeld nicht wieder die Torgefahr der letzten Saison entwickelt. Da hab ich in den bisherigen Spielen unsere einzigste Baustelle gesehen.

  2. Vielen Dank, Tim. Insofern sind die Themen Qualität der Flanken und der manchmal auch schnellere Abschluss wohl die wichtigsten Elemente in der Länderspielpause. Wenn man sich mal die torreichen Spiele des letzten Wochenendes anschaut, ist auffällig, dass die Flanken und die Direktabnahmen auch der eingerückten Aussenspieler, das Mittel der Wahl waren.

  3. Mir fehlt ein Element in dem System.Durch den langsamen Aufbau trifft man immer auf eine gut strukturierte Defensive.Es fehlt der überraschende Überfall a la Athletico Madrid.
    Wenn der Torwart zB nach einer Ecke den Ball abfängt,dann könnte er ihn direkt in den freien Raum in der gegnerischen Hälfte spielen.Das setzt voraus,daß bei Ballgewinn sofort 3 Spieler (egal wer) lossprinten(wie im Hallenhandball)Jeder dieser überraschenden langen Bälle kann eine 1:1 Situation generieren und damit für den Gegner gefährlich werden.

  4. Ich bin sehr gespannt, wie Fabian Hürzeler sich weiter entwickelt
    Der Shootingstar der Rückrunde 22/23 hat jetzt auf einmal Gegenwind
    insofern, als dass die Ergebnisse nicht passen und auch die eigentliche Ziele (Aufsteig)
    in weite Ferne rücken.
    Die kommenden Spiele sind gegen Kiel, Schalke und Hertha
    Ob da eine Ergebniswende möglich ist ??
    Ich würde es Fabian Hürzeler (und natürlich uns ALLEN) wünschen, denn ich halte ihn für einen besonderen
    Trainer mit einem ausgereiften Plan auf dem Feld und auch im Umgang mit den Spielern und dem Staff
    Forza FCSP

  5. Wieder ein richtig cooler Artikel.

    Ich war in dieser Saison bisher fasziniert von unserer defensiven Stabilität. Bisher habe ich immer lernen müssen: Wenn die Abwehrkette nicht stabil ist, spielt der FC St. Pauli um den Abstieg. Jetzt hatten wir in jedem Spiel wechselnde Innenverteidiger auf dem Platz und dennoch habe ich kein Abfallen der defensiven Stabilität erkennen können.

    Nach deinen Artikel weiß ich auch warum.

    Und was wir als Learning herausziehen können:

    Immer wenn sich unsere Mannschaft nach Ballverlust schnell wieder hinter dem Ball befindet, sollten wir das Abfeiern wie ein Tor.

  6. Wow, endlich habe ich es mal geschafft dieses Brett zu lesen. Danke, dass Ihr das geschrieben habt!

    Und: Ich bin schon lange Fan und habe viele Spiele gesehen und doch ist mir bewusst wie begrenzt mein fussballerisches Verständnis ist. Durch Deine ganzen Aufdröselungen bekomme ich den Eindruck, mich dem endlich mal mehr zu nähern. Auch dafür ein dickes Danke!

    Auch spannend, dieses Beschreibungen jetzt zu lesen, wo bereits die Siege gegen Kiel und Schalke hinter uns liegen. Ich freue mich bereits darauf, mir diesen Artikel noch mal zum Winter oder noch später anzugucken.

    Forza!

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