Es war im Juli 2016, als der FC St.Pauli einen jungen, türkischen U-Nationalspieler unter Vertrag nahm. Enver Cenk Şahin kam als Ausleihe von Basaksehir und begeisterte in seinen 27 Ligaeinsätzen (vier Tore, sechs Vorlagen) immerhin so sehr, dass der Jubel bei allen Fans groß war, als man nach einem Jahr die Leihe in einen festen Wechsel umwandelte, immerhin für kolportierte 1,3 Mio € (= zweitteuerster Einkauf der Vereinsgeschichte).
Eineinhalb Jahre später (Januar 2019) war die (auch von uns) einst große Liebe („Cenk ein das Ding“) dann doch merklich erkaltet, es folgte eine Ausleihe zum FC Ingolstadt und im Sommer dann eine Rückkehr, die offensichtlich niemanden so wirklich begeisterte.
Update, 14.Oktober: Cenk Sahin ist mit sofortiger Wirkung freigestellt.
Was war passiert? Sportlich war es im jeweiligen Spielsystem für ihn oft schwierig, weil den unbestrittenen offensiven Stärken eklatante Schwächen in der Defensivarbeit und vor allem auch dem Verständnis für defensive Arbeit generell gegenüberstanden.
In der Fanszene kam hinzu, dass er der genaue Gegenentwurf zu Fanliebling Deniz Naki war, welcher für seinen Kampf gegen das Regime Erdogan einstand, während Şahin auf seinem Instagram-Account aus seiner Vorliebe für Erdogan keinen Hehl machte.
Nach seiner Rückkehr kam medial zwar die ein oder andere Beteuerung, es jetzt doch nochmal wissen zu wollen, auf dem Platz konnte er dies allerdings nicht zeigen. Wohl auch, weil Luhukay für sein System eine gewisse Fitness voraussetzt, die bei Cenk wohl noch nicht gegeben war.
Nun also, heute das Testspiel gegen den SV Werder, die Chance für die Leute aus der zweiten Reihe. Und tatsächlich dürfte der Blick auf Cenk Şahin das spannendste sein, zumindest vor Anpfiff.
Denn die Frage lautet: Steht er überhaupt im Kader?
Das es diese Frage überhaupt gibt, liegt an seiner gestern geposteten Instagram-Story:
„Wir sind an der Seite unseres heldenhaften Militärs und der Armeen. Unsere Gebete sind mit euch!“ sagt Cenk Şahin, unter Vertrag beim @fcstpauli#fcsp pic.twitter.com/5E3VT1TLb0
— Trash_Couture (@tr4sh_coutur3) October 10, 2019
Und jetzt wird es schwierig.
Ein Spieler des FC St.Pauli, der einen Angriffskrieg befürwortet? Der nicht zum ersten Mal mit Aussagen auftritt, die man durchaus als Nationalistisch bezeichnen kann?
Der Protest in den Sozialen Netzwerken kam schnell und dürfte den Verein nicht überrascht haben – normalerweise auch den Spieler nicht, da er auch bei seinen letzten politischen Statements schon durchaus Gegenwind bekommen hatte.
Forderungen nach Konsequenzen durch den Verein waren zu lesen, teilweise aber auch Statements die vom Niveau her auch keinen Platz nach unten mehr ließen.
Heute kam dann ein Statement von USP heraus, welches in seiner Deutlichkeit dann auch wenig Spielraum lässt und schon eine Kadernominierung von Şahin als eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Was jetzt kommt ist also meine persönliche Sicht der Dinge, die natürlich absolut von außen ist und keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit erhebt.
Vorab: Ich stimme mit USP überein, dass ich aufgrund der wiederholten Äußerungen Şahins keinen Einsatz von ihm für den FCSP mehr sehen will.
Es handelt sich hier um den FC St.Pauli, der im Profifußball mehr als jeder andere Verein für bestimmte Werte stehen will und aus meiner Sicht auch weiterhin steht. Die Unterstützung eines Regimes wie jenes von Erdogan ist mit diesen Werten kaum bis gar nicht zu vereinbaren, die direkte Unterstützung eines Angriffkrieges gegen eine unterdrückte Bevölkerungsgruppe schon mal erst recht nicht.
Würde Şahin dies still vor sich hin denken, wäre dies schlimm genug. Öffentliche Äußerungen auf seinen Kanälen (>14.000 Instagram Follower) überschreiten aber eine Grenze, insbesondere im Wiederholungsfall.
Kommen wir zum „Aber“: Das was Şahin hier schreibt, dürfte unter den Begriff der Meinungsfreiheit fallen. Diese Meinung muss uns nicht gefallen und wir müssen sie schon mal erst recht nicht teilen, aber so wie er werden viele Menschen in der Türkei denken und wahrscheinlich auch viele Menschen mit türkischen Wurzeln, die in Deutschland leben.
Erdogan mag aus unserer Sicht ein Despot oder gar Diktator sein, in der Türkei ist er demokratisch legitimiert. (Nachtrag: Dies kann man a) anders sehen und ist b) natürlich auch kein Freifahrtschein, klar.)
Wie übrigens auch Donald Trump, der in dem Konflikt ja auch eine durchaus wichtige Nebenrolle spielt.
Darf man jetzt also die Meinung eines Spielers öffentlich beschneiden, wo wir sonst uns immer mündige Spieler wünschen? Weil uns in diesem Fall die Meinung nicht passt und wir sie für grundfalsch halten?
Was wäre ein vergleichbarer Fall für einen deutschen Spieler im Ausland? Ist nicht der oben erwähnte „Gegenentwurf“ Deniz Naki ein gutes Beispiel, wie wir reagieren, wenn ähnliches im Ausland passiert, nur eben „umgekehrt“?
Wo zieht man die Grenze, was noch erlaubt ist, was hingegen zu viel?
Zu den meisten oben gestellten Fragen lautet meine Antwort ganz klar „Jein“.
Wir müssen diese Meinung natürlich akzeptieren. Wir (als Fanszene und als Verein) müssen uns dann aber auch klar dagegen positionieren und gegebenenfalls eben die nötigen Konsequenzen ziehen, ungeachtet eventueller arbeitsrechtlicher Szenarien.
Würde jemals ein Spieler des FCSP sich öffentlich positiv über die AfD äußern (die ja ebenfalls demokratisch legitimiert ist), so wären die Konsequenzen hoffentlich auch schnell klar, auch wenn dies arbeitsrechtlich unter Meinungsäußerung fallen würde.
Und wir sind halt der FC St.Pauli, bei dem ein oder anderen Profiverein in Deutschland oder anderen Ländern könnte man sowas vielleicht leichter wegmoderieren oder wegschweigen, dies wird hier in diesem Fall nicht funktionieren.
Und das ist auch gut so.
Für mich ist klar, dass das was Şahin geschrieben hat, unter „Meinungsfreiheit“ fällt und rein arbeitsrechtlich noch nicht mal für eine Abmahnung reichen dürfte.
Und trotzdem: Ich hoffe, dass der Verein hier die richtigen Konsequenzen zieht – und die können aus meiner Sicht eben nur sein, dass man Şahin bis zur Winterpause fürs trainieren bezahlt und ihn dann noch irgendwie weitertransferiert bekommt, notfalls auch ohne Ablöse. Und das Minus in der Transferbilanz, welches damit gegenüber den damals gezahlten 1,3 Mio € einhergeht, muss dann halt als Lehrgeld verbucht werden.
Alternativ wäre eine Auflösung des Vertrags in beiderseitigem Einvernehmen auch gut, aber ich bin kein Arbeitsrechtler.
Der Spieler selbst hat seinen Instagram-Account inzwischen auf „privat“ gestellt. Da ihm aber sicher genug Fans folgen bzw. eben auch schon vorher folgten, dürfte dies kaum etwas ändern.
Update: Und während ich dies schrieb, äußerte sich auch der Verein. Gutes und schnelles Statement für zwischendurch, natürlich kann und sollte man das jetzt in Ruhe aufarbeiten und nichts überstürzen.
// Maik
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warum wird eigentlich immer und fälschlicherweise behauptet, sahin sei unser rekordtransfer? ugur incemann hat damals 2,8 millionen dm gekostet, sahin umgerechnet „nur“ 2,5 millionen dm.
Sorry, mein Fehler, ich hatte bei Inceman nen geringeren Betrag im Kopf.
danke
Mit Verlaub, Frodo, aber das ist ein ganz schwacher Kommentar, dessen argumentative Grundstruktur (natürlich nicht inhaltlich!) erstaunlich stark an AfD & Co erinnert. Letztendlich läuft er auf ein „Das wird man ja wohl noch sagen können dürfen!“ hinaus und relativiert den Faschismus der AKP. Über die demokratische Legitimation Erdogan darf übrigens durchaus diskutiert werden, das ist aber ein Nebenkriegsschauplatz. Entscheidend ist, dass das Argument „demokratisch gewählt“ kein Gutes ist, denn damit ließe sich auch ein NPD-Mitglied in den Reihen des FCSP rechtfertigen.
Dass dann auch noch mahnend mit dem Zeigefinger auf das schöne Geld, was man jetzt ja endgültig verlieren würde, verwiesen wird, rundet den Kommentar auf unangenehme Art ab. Ja, das Geld mag weg sein, aber genau daran zeigt sich doch, wie ernst es der FCSP mit seinen eigenen Werten meint. Ein großes „Kein Fußbreit den Faschisten“ auf der Gegengrade ist bedeutungslos, wenn diese Aussage nicht auch gelebt wird.
Mit Verlaub, dann müssen wir uns hier wohl auf unterschiedliche Sichtweisen einigen.
Ich sehe bei meinem Text absolut null „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, im Gegenteil.
Und das das Geld abzuschreiben ist um für die eigenen Werte gerade zu stehen, schreibe ich auch. Offensichtlich interpretieren wir meine Aussagen dann eben sehr unterschiedlich.
Welcher mahnende Zeigefinger denn? Das Geld ist in dem Fall irrelevant. Oder ist „notfalls auch ohne Ablöse“ anders zu verstehen?
Leider darf man solche Aussagen „hier“ tätigen – strafbar ist es nicht. Maik macht klar, dass zwischen „hier“ (Rechtssystem in Deutschland) und „hier“ (FC St. Pauli) unterschieden werden soll. Und genau deswegen lässt sich braune, faschistische, homophobe, sexistische und rassistische Scheiße schlicht nicht in den Reihen des FCSP rechtfertigen. Egal, wie demokratisch oder undemokratisch etwas gewählt wurde. Die Konsequenzen, die der Verein aus den Aussagen von Sahin ableiten muss und kann, sind eindeutig skizziert und gefordert.
Ich finde die Forderung nach Auflösung seines Arbeitsvertrages nicht nur arbeitsrechtlich sehr kritisch, sondern auch ziemlich abgehoben, aber das nur nebenbei.
Ich denke, Luhukay wird weder Sahin noch der Mannschaft noch der Moral der Truppe einen Gefallen tun, ihn noch einmal aufzustellen. Denn in diesem Fall kann ich mir das bisher unmöglich scheinende vorstellen: Dass ein St. Pauli-Spieler vom eigenen Publikum ausgepfiffen wird. Und wenn das wirklich und konsequent passiert, wird am Ende ein Wechsel für ihn umgänglich sein.
Liebe Millernton-Leude!
(Mittlerweile) gestern um die Mittagszeit wurde ich auf das IMHO richtige Statement von USP zur „Causa Cenk Şahin“ aufmerksam.
In meinem Umfeld war es heute Thema, auf Social Media ebenso. Bei dem Versuch, mir mal ein Bild zu machen, verschiedne Perspektiven zu betrachten, bin ich auf das hier gestoßen:
https://www.nytimes.com/2019/10/11/world/middleeast/turkey-syria-kurds.html
(Interessant auch der twitter-link innerhalb, sowie die Leserkommentare am Ende des NY-Times-Artikels.
Erklärt ein wenig, was die US-Außenpolitik damit zu tun hat und warum der FC St. Pauli jetzt von türkischen Nationalisten gedisst wird, finde ich..)
Grüße