Der Wert der Werte-Diskussion

Der Wert der Werte-Diskussion

Bleibt zu hoffen, dass diese Kuh irgendwie noch zeitnah vom Eis gebracht wird – und sich keiner am Donnerstag in seiner Abendfreizeit mehr als unbedingt nötig mit Andy Grote beschäftigen muss.
Maik’s Worte vor fünf Tagen klingeln mächtig in meinen Ohren während ich diese Zeilen schreibe. Es kam anders. Und auch wenn die Veranstaltung „Unser Fußball braucht neue Werte“ vom Fanclub fairnetzer.1910 nicht wie ursprünglich geplant stattgefunden hat, so ist der Schaden enorm. Der Reihe nach:

Chronologie
Nach der Ankündigung von USP und auch dreimaliger Erwähnung hier im MillernTon und anderen Fanmedien, passierte vonseiten der Veranstalter und von Vereinsseite erstmal nix. Einzig die Info, dass die Veranstaltung wie geplant durchgeführt werden soll, sickerte via Boulevard durch. Keine Rede davon, dass die Podiumsdiskussion, wie von großen Teilen der Fanszene gefordert, nicht in der Südtribüne stattfinden soll.
Und als dann am gestrigen Vormittag immer noch keine weiteren Neuigkeiten bzgl. der Veranstaltung von Vereins- oder Veranstalterseite kamen, fragte ich mich unweigerlich, ob da viele Personen sehenden Auges eine Kernschmelze herbeiführen wollen. So interpretierte ich dann auch den Tweet des Fanladens, der knappe sechs Stunden vor Beginn nochmal eindringlich in Richtung Verein und Veranstalter deutlich machte, dass es keine gute Idee sei diese Podiumsdiskussion wie angekündigt durchzuführen. Dies tat er sicherlich auch deswegen, weil Gruppen außerhalb der aktiven FCSP-Fanszene ihr Kommen angekündigt hatten, welches zu einer gewissen Unwägbarkeit hätte führen können.
Erst knapp drei Stunden vor Beginn dann die Nachricht vom Verein, dass die Veranstaltung nicht öffentlich stattfindet. Stattdessen wird das Gespräch aufgenommen und ggf. heute im Laufe des Tages der Öffentlichkeit präsentiert. Eine Podiumsdiskussion war das dann nicht mehr. Unklarheit gab es zunächst, ob die Veranstaltung weiterhin in der Südtribüne stattfinden würde, welches dann ja weiterhin dem Gegenentwurf zur Kernforderung der Fanszene entsprochen hätte. Sie tat es nicht, sie wurde in die Haupttribüne verlegt.
Trotz dieser Absage für die Öffentlichkeit versammelten sich etwa 300-400 Menschen am Millerntor und machten deutlich, dass hier etwas ziemlich schief gelaufen ist.

Denn so wirklich besser wurde die ganze Nummer durch die Verlegung in die Haupttribüne nicht. Ein eigentlich interessantes Diskussionsthema, ja. Leider mit einer Besetzung die dann doch als mindestens unausgewogen bezeichnet werden kann, da Fanvertreter*innen komplett fehlten. Über Rainer Koch und vor allem Andy Grote brauchen wir uns an dieser Stelle nicht unterhalten. Ich verweise hier gerne auf die Ausführungen von USP.

Quelle: USP

Wer stellte hier auf stur?
Es verbleibt bis hierhin unklar, wer die Entscheidung traf, dass die Veranstatlung trotz der breiten Krititk an der Besetzung des Podiums und vor allem des Ortes, weiterhin in der Südtribüne geplant wurde. Vielleicht stellte der Veranstalter auf stur und wollte partout nicht umziehen? Vielleicht wurden da allen Ernstes die möglichen Einschränkungen in der Durchführung durch Proteste bzw. das Echo der aktiven Fanszene unterschätzt?
Mit Oke’s Aussagen in der Pressemitteilung zur Absage an die Öffentlichkeit kann ich jedenfalls nur bedingt leben. – „Das Präsidium bedauert die Entscheidung, denn der FC St. Pauli steht für eine offene und tolerante Diskussionskultur und wird sich auch weiterhin in Gesprächen und Diskussionen mit in Teilen der Öffentlichkeit kontrovers gesehenen Menschen sachlich und kritisch auseinandersetzen und im Sinne der Inhalte von wichtigen sportpolitischen Themen agieren“ – Ganz ehrlich: Ja, ich denke auch, dass nicht miteinander reden viel schlimmer ist, als den Diskurs auch mit, gelinde gesagt, unbeliebten Personen zu suchen. Das dieser Diskurs stattfindet ist ja aber auch nicht der Kern der Kritik gewesen. Meinem Eindruck nach wurde das, wenngleich zähneknirschend, akzeptiert. Es ging vielmehr um den Ort des Geschehens. Und das es in der Fanszene Kritik hervorruft, wenn Andy Grote in der Südtribüne was erzählen darf, war doch klar. Die Fragen bleiben: Warum wurde nicht direkt zu Beginn der Planung darauf hingewiesen, dass es da Probleme aufgrund der Besetzung geben würde? Und warum wurde, nachdem die Kritik dann überdeutlich geäußert wurde, nicht mit einer Verlegung reagiert?
Klar, eine Verlegung an einen anderen Ort hätte auch weiterhin dazu geführt, dass die Veranstaltung eher kritisch beäugt werden würde. Aber es wäre eben nicht zu diesem unwürdigen Hick-Hack gekommen, der dem gesamten Verein nicht wirklich gut zu Gesicht steht. Nein, wirklich überhaupt nicht gut. Ein kurzer Blick in die Boulevard-Medien genügt um zu sehen, was hiermit angerichtet wurde.

Wir brauchen eine Diskussionskultur – aber der Rahmen muss passen!
Ja, wir brauchen eine Diskussionskultur. Auch mit Leuten, die wir nur schwer aktzeptieren können. Andy Grote ist, so ungern ich das auch schreibe, nun einmal in seiner Funktion als Sportsenator nicht unwichtig für den FCSP, wenn es z.B. um neuen Sportstätten geht (die wir dringend brauchen). Da ist ein reger Austausch einfach zwingend notwendig. Ob wir den nun wollen oder nicht. Und daher ist es grundsätzlich begrüßenswert, wenn ein Fanclub wie eben fairnetzer.1910 da mit einer Podiumsdiskussion einen Rahmen schafft. Nur muss eben der Rahmen passen. Das tat er vor allem deswegen nicht, weil es in der Südtribüne stattfinden sollte.
Aber eben hierbei gibt es auch andere Sichtweisen. So gern ich das hätte, so sicher bin ich mir leider, dass nicht alle Fans des FCSP so über die Kritik an der Podiumsdiskussion denken wie ich. Im Gegenteil: Es wird sicher viele Fans des FCSP geben, die sich darüber ärgern, dass viele andere Fans sich über den Ort der Veranstaltung beschwerten. Da geht die Argumentation dann dahin, dass wir das als Fanszene auszuhalten hätten. Genauso wie einige es „aushalten“ müssen, wenn (ganz plakativ gesagt) beim Derby Pyrotechnik gezündet wird. So etwas gehört dann zu einem Verein mit einer heterogenen Fanszene dazu. Ich teile diese Meinung nicht, wirklich überhaupt nicht. Aber es gibt sie und wir müssen versuchen irgendwie damit klarzukommen.

Innenleben ungleich Außendarstellung
Denn allein die Nachrichten aus vielen Medien über den gestrigen Ausschluss der Öffentlichkeit zeigen uns doch, dass es eben viele solcher Meinungen geben muss. Es liest leider nicht jede*r MillernTon / magischerfcblog / KleinerTod / Kiezkieker / OutOfControl etc. und bildet sich auf Basis des dort Geschriebenen eine Meinung. Es gibt genügend Fans des FCSP, die z. B. einzig und allein die MOPO als Quelle aller Nachrichten zum FCSP nutzen. Und wenn ihr Euch nur deren Überschriften zu dem Thema reinzieht („Feueralarm nach Ultra-Protest gegen St.Paulis Talkrunde“ oder „Nach Ultra-Drohungen: Talkrunde findet ohne Gäste statt„), dann ist doch ganz klar, welches Bild wir, der ultra-affine Teil der Fanszene, für die Leser solcher Artikel abgeben. Und über weitere untragbare Schlagzeilen anderer Print-Medien habe ich hierbei noch gar nicht geschrieben.
Oder anders: Wie oft habt ihr schon mit Personen über Eurer Fan-Dasein gesprochen, die mit dem FCSP wenig bis gar nichts zu tun hatten, also darüber, dass ihr häufiger mal auswärts fahrt, dass ihr vielleicht in der Süd steht und dass ihr Pyrotechnik ziemlich cool findet? Und wie oft habt ihr darauf völlig entsetzte Reaktionen bekommen? Ich für meinen Teil musste nicht nur einmal erklären, dass die aktive Fanszene des FCSP nicht ein Haufen gewaltbereiter Anarchos ist, die allen Nicht-Gleichgesinnten die Fresse polieren. Das ist leider das Bild, dass viele von uns haben. Sogar innerhalb der FCSP Fanszene.
Wir dürfen also nicht vergessen, dass wir zwar wissen, dass unsere Ultras gute Jungs & Deerns sind (in ihrem Statement haben sie ja mehr als deutlich gemacht, dass auch sie klar für Diskurs sind), die sehr differenziert über die Dinge denken. Das ist aber leider nicht überregional und nicht einmal in den lokalen Medien bekannt und dementsprechend nicht mal in der gesamten Fanszene des FCSP.
Eine Schlagzeile wie z.B. „Präsidium verlegt Veranstaltung nach Kritik der Ultras“ (und das ist noch eine softe Variante), wird also von verschiedenen Leuten ganz unterschiedlich aufgefasst. Wir wissen, dass diese Kritik 1. vollkommen berechtigt ist und 2. die Forderungen nicht unerfüllbar waren. Aber es ist leider davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil in so eine Schlagzeile ein „Oke knickt vor Ultras ein“ hineininterpretiert (wenn das nicht sogar heute die Überschrift in einigen Medien ist).
Und das sind Schlagzeilen, die es zu vermeiden gilt. Die vermutlich auch vermieden hätten werden können, direkt zu Beginn der Planung einer solchen Veranstaltung. Aber auch das hätten einige dann vermutlich als Einknicken vor den Ultras angesehen, wenn bereits bei der Planung berücksichtigt wird, dass gewisse Personen nicht zu einer Podiumsdiskussion in die Süd eingeladen werden sollten (und eben das ist aus meiner Sicht ein realistisches Szenario, wie es überhaupt soweit kommen konnte). Und da sind natürlich auch Leute dabei, die das gar nicht mal so cool finden, dass es bei uns ein „Fan-Präsidium“ und „-Aufsichtsrat“ gibt. Leute, die das am liebsten sofort wieder abschaffen würden. Die die Millionen für den Verkauf des Stadionnamens sofort mitnehmen und gleich noch 30.000 braun-blaue Klatschpappen für das nächste Derby mit dem Aufdruck „hsv & pauli – wir lieben Hamburg“ oben drauf packen würden. Solche Leute müssen wir nicht gut finden. Aber das Präsidium muss einen Weg im Umgang mit ihnen finden, denn immerhin sind die als Mitglieder Teil des Vereins und werden ebenso wie wir vom Präsidium vertreten.

Ich will hier gar nicht sagen, dass in der Planung und dann später in der auf Gedeih & Verderb versuchten Durchführung der Veranstaltung keine Fehler passiert sind. Denn natürlich war das eine von vorne bis hinten absolut missratene Nummer, die bereits früh hätte verhindert werden müssen. Ich möchte aber auch aufzeigen, dass das womöglich nicht die einhellige Meinung aller Fans des FCSP ist. Denn mindestens der Fanclub fairnetzer.1910 hielt das ja anscheinend für eine richtig gute Idee, auch nach Aufkommen der Kritik an dem Veranstaltungsort festzuhalten. Zumindest sagte Veranstalter Joachim Weretka noch am Mittwoch der MOPO, dass „Stand jetzt keine Veränderung geplant sei„. Da ist ja auch schon einiges an Sturheit, wenn nicht sogar gewollte Provokation gefragt, um die deutliche Kritik zu ignorieren.
Und das FCSP-Präsidium hat auch lange an diesen Plänen festgehalten. Viel zu lange. Oke war bereit sich mit Grote und Koch und ohne weitere Fanvertreter*innen auf das Podium zu setzen, trotz der Kritik. Und auch wenn es wichtig ist, dass der Diskurs mit unangenehmen Gesprächspartnern aufrecht erhalten wird (übrigens eine Aufgabe um die ich unser Präsidium nicht beneide), auch wenn es einige Fans beim FCSP gibt, die solche Diskussionsrunden genau richtig finden, so war diese Kombination aus ungebetenen Gästen und falscher Standortwahl eine Ecke zuviel für die Akzeptanz der aktiven Fanszene und ein Fehler. Ich bin sicher, dass daraus gelernt wird, teuer bezahlt haben wir es gestern alle, denn wie zu befürchten war, gab es am Ende zumindest in der Außendarstellung nur Verlierer.
Wenn man überhaupt etwas positives aus diesem Abend ziehen will, dann die Tatsache, dass da draußen 300-400 St.Paulianer standen, die für „Unsere Werte“ geschlossen eingestanden sind.

//Tim

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11 thoughts on “Der Wert der Werte-Diskussion

  1. Sich so sehr an dem Ort zu stören finde ich irritierend. Mich störte vielmehr sehr, dass ausgerechnet mit Typen wie Grote und Koch über die Werte unseres Vereins diskutiert werden soll. Das fand und finde ich vollkommen unpassend.

    Im Allgemeinen bin ich mit unserer derzeitigen Vereinsführung eigentlich ganz zufrieden. Die generelle Kritik kann ich also gar nicht nachvollziehen. Aber in diesem Fall hat man wirklich sehr unglücklich agiert und muss sich Kritik gefallen lassen.

    1. @Park: Naja, es handelt sich halt um den Sport- und Innensenator und den DFB-Vize. Das Thema scheint angekommen zu sein, aber die Protagonisten sind fragwürdig.
      @Tim: Vielen Dank für den Artikel und die Aufarbeitung! Da werden von Dir m.E. sehr viele gute und wichtige Punkte gut dargestellt und beschrieben!

        1. Insbesondere das Thema Innenleben ungleich Aussenwirkung findet m.E. sonst kaum (?) bis nirgendwo statt; wobei ich es als unheimlich wichtig einschätze (s. u.a. Mitgliederwachstum).

    2. Ja, mich stört es auch massiv, dass sich da jemand mit Grote und Koch an einen Tisch setzt. Aber, ganz grob gesagt, irgendwer muss ja für den FCSP die Drecksarbeit machen! Es geht halt nicht ohne das Gespräch mit solchen, im sportpolitischen Umfeld wichtigen, Personen der Kontakt gehalten wird.
      Ja, ich bin da bei dir, dass wir mit unserer derzeitigen Vereinsführung zufrieden sein können.

  2. Danke Tim!
    Du schaffst es immer wieder das was ich denke in Worte zu fassen.
    So kann ich in etwaigen Diskussionen auf deinen Beitrag und dem vom magischenfc blog verweisen.

  3. „Sollte sich keine Lösung abzeichnen, rufen wir alle dazu auf, die Veranstaltung entsprechend zu begleiten.“
    Was soll dieser Satz von USP bedeuten? Ist das schon eine Drohung?
    In meinen Augen kann man dass durchaus so sehen und das ist mein eigentliches Problem mit der ganzen Geschichte.

    Man kann ja aus guten Gründen der Meinung sein, dass bestimmte Personen am Millerntor nichts verloren haben. Man darf auch versuchen diese Meinung durchzusetzen aber der Weg ist falsch und er ist zutiefst undemokratisch. Hier wird das Recht des Stärkeren durchgesetzt und dass kann es doch nicht sein! Ehrlich nicht.

    In meiner Welt steht der FCSP nicht nur für klassisch „linke“ und „freiheitliche“ Werte ein, sondern auch für den demokratischen Grundkonsens dieser Gesellschaft und den sehe ich eben in dieser Art von Streitkultur deutlich verletzt.

    Ja, der Veranstalter hätte den Konflikt im Vorfeld vermeiden können aber es hätte hier auch etwas entstehen können. Es gibt auch Möglichkeiten, eine Veranstaltung dieser Art zur Kritik an Herrn Grote zu nutzen, ohne gleich die ganze veranstaltung niederzubrüllen oder sonst irgendwie zu (zer)stören.
    Ich hätte auch keine Problem mit einer lautstarken Demonstration, mit Plakaten, Flyern oder am besten noch kritischen Wortbeiträgen.
    Vielleicht wären dann ja auch irgendwann einmal Headlines wie

    „Kreativer Protest der Sankt Pauli Ultras: Grote in Erklährungsnot!“

    oder irgendetwas ähnliches drin.

    Nun haben wir den Schlamassel. Die Diskussion fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Demokratie braucht aber Öffentlichkeit. Sonst funktioniert sie nicht.
    Zumindest in diesem Punkt sind wir uns einig: Hier ist für alle Seiten nur Schaden entstanden.

    1. Danke für deine Ausführungen.
      Wie bereits geschrieben (auch von USP selbst), geht es bei der Geschichte nicht primär um die Diskussionsrunde an sich. Dieses Format fand bereits im Februar statt (hieß nur etwas anders). Nur halt nicht in der Süd. Daher sehe ich es nicht so, dass der demokratische Grundkonsens hier deutlich verletzt wurde.
      Ich jedenfalls kann nachvollziehen, dass Teile der Fanszene eine Reizfigur wie Grote nicht in der Süd haben wollten (G20 lässt grüßen, mit massiven Einschränkungen demokratischer Grundrechte). An anderer Stelle wäre diese Podiumsdiskussion aber toleriert worden.

      1. Danke für deine Antwort!
        Ja ich versteh‘ jeden, der keinen Bock auf Grote in der Süd hat. Aber darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, wie hier agiert wird, um seine Interessen durchzusetzen und da bleibe ich dabei. Das ist kein demokratischer Umgang miteinander und das halte ich für völlig falsch.
        Nebenbei bemerkt freue ich mich aber, wie differenziert du darüber schreibst. Auch Maiks Artikel über Sahin sei hier lobend erwähnt.

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