Drei Punkte im Erzgebirge – Go with the flow!

Drei Punkte im Erzgebirge – Go with the flow!

Der FC St. Pauli gewinnt bei Erzgebirge Aue. In einer Art und Weise, die mich einmal mehr recht sprachlos zurücklässt. Es folgt daher keine Taktikanalyse sondern nur Abfeierei. Über einen FCSP, den ich so seit rund einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen habe.
(Nachtrag: Ein bisschen Taktikanalyse und noch mehr Statistiken gibt es in diesem zweiten Text.)

(Titelbild: Bert Harzer/Eibner-Pressefoto/imago images/via OneFootball)

Es geht einfach genau da weiter, wo es aufgehört hat. Mit gleicher Formation und gleicher Aufstellung wie schon gegen Braunschweig tritt der FCSP auch im Erzgebirge an. Und wie auch schon gegen Braunschweig war der FCSP schlicht hochüberlegen, ließ Aue von Beginn an nicht den Hauch einer Chance. Es entwickelte sich schon wieder ein Fußballspiel, bei dem der FCSP nur in ganz wenigen Momenten nicht klar das Heft des Handelns in der Hand hatte.

Waren im Laufe der Saison immer einzelne Komponenten des FCSP-Spiels gut, aber nie das gesamte Spiel, so hat sich in den letzten Spielen mehr und mehr alles zu einem großen Ganzen zusammengefügt. Und dadurch, dass die einzelnen Komponenten immer besser passen und sich perfekt ergänzen, wird automatisch das gesamte Spiel besser.

Zum Beispiel das Gegenpressing, dass der FCSP spielt. Es ist inzwischen das beste der Liga. Mit Spielern wie Finn Ole Becker, Rodrigo Zalazar und vor allem Omar Marmoush geht das Team auf eine Art Treibjagd, bei der gegnerische Teams vermutlich häufig den Ball lieber gar nicht erst in ihren eigenen Reihen hätten und ihn mehr oder minder freiwillig abgeben. War es zu Saisonbeginn meist partiell der Versuch mit einem hohen Pressing den Ball zu erobern, wird diese Spielweise inzwischen nahezu das komplette Spiel durchgezogen.
Dieses hohe und intensive Pressing klappt vor allem deshalb so gut, weil der FCSP es geschafft hat eine Art Gleichgewicht zwischen offensiver Power und defensiver Stabilität herzustellen. Bei Ballverlusten bieten sich den Gegnern keine enormen Räume mehr, wie noch in der Hinrunde, die Rückverteidigung sitzt. Die Spieler können nur deshalb so konsequent ins Gegenpressing gehen, weil das Timing und die Raumaufteilung so viel besser ist als in der Hinrunde.

Aus den vielen Ballgewinnen ergeben sich grob gesagt zwei Arten des Ballbesitzspiels: Offensive Umschaltmomente und Positionsangriffe. Und beide Arten des Angriffsspiels sind aktuell enorm stark. Und gerade diese Kombination, dass der FCSP beide Arten des Angriffsspiels beherrscht und daraus Torchancen entwickeln kann, macht es für jeden Gegner enorm schwer diese zu verteidigen.
Wenn der FC St. Pauli den Ball tief in den eigenen Reihen hält, dann haben sich inzwischen einige Arten entwickelt, mit denen er den Ball in die Gefahrenzone bekommt. Es wird versucht die Außenbahnen zu überladen. Oder Finn Ole Becker wird über einen fallenden Offensivspieler, der einen Ball aus der Verteidigung klatschen lässt in eine aufgedrehte Position gebracht. Oder Rodrigo Zalazar kümmert sich höchstselbst darum, dass er aufdrehen kann via Dribbling. Oder aber, und das macht das Angriffsspiel des FCSP so gefährlich, wenn die Räume dicht sind, wird einfach ein tiefer Ball auf die schnellen Offensivspieler gejagt.
Das ist schon richtig stark, aber noch viel stärker ist der FC St. Pauli in offensiven Umschaltmomenten (wie zum Beispiel beide Tore gegen Braunschweig gezeigt haben). Das ist auch tatsächlich die einzige der aufgezählten Komponenten, die schon die gesamte Saison gut ist. Aber dadurch, dass sich die gegnerischen Teams nun nicht mehr darauf konzentrieren können den FCSP in Umschaltmomenten gut zu verteidigen, sondern auch einen Plan gegen deren Positionsangriffe haben müssen, selber nicht mehr so gut ins Umschalten kommen und allgemein eigentlich überall auf dem Platz Druck bekommen, ist der FCSP richtig erfolgreich.

Das ist vermutlich alles etwas viel Lobhudelei. Meine Brille ist sicher etwas sehr rosarot, sodass ich die leichten Schwächen, die es beim FCSP auch weiterhin gibt (zum Beispiel, dass auch Aue nicht frühzeitig komplett und restlos unangespitzt in den Boden gerammt wurde) übersehe. Aber ich tue das gerne. Denn es ist einfach richtig ungewohnt, was der FCSP aktuell zeigt.

Wenn es eine Konstante beim FC St. Pauli in den letzten zehn Jahren gab, dann ist es das Dasein als Aufbaugegner für Teams, die monatelang gar nichts gerissen haben oder von durch Verletzungen gebeutelte Abstiegskandidaten. Dann sind es die konstant schwachen Spiele nach guten. Diese Nachlässigkeit, die scheinbar auf dem Gefühl der Spieler fußte, dass sie nun wissen würden wie es zu laufen hat und das nun auch drei-vier Prozent weniger für das gleiche Ergebnis reichen würden, nur um dann zielsicher einen auf die Fresse zu bekommen und danach etwas von „müssen Reaktion zeigen“ zu faseln. Diese Nachlässigkeit war lange Zeit die DNA des FC St. Pauli. Ja, das steht bewusst in der Vergangenheitsform.

Diese Niederlagen in Aue und Heidenheim, die es Saison für Saison gab, das war die perfekte Beschreibung vom Spiel des FCSP. Dass das Team z.B. nach Osnabrück fährt und dort einem seit zig Spieltagen leblosen Gegner mit einer Nicht-Leistung wieder Leben einimpfen würde, war ein todsichere Wette. Und nun fährt das Team da hin zu diesen Orten und reißt alles ein, zersplittert jede Negativ-Statistik und zeigt ein völlig verändertes Gesicht, das mich zutiefst beeindruckt.
Ich möchte gar nicht behaupten, dass es von nun an solche Niederlagen nicht mehr gibt und das wir nun alles wegmähen, was sich in den Weg stellt. Ich habe aber das Gefühl, dass sich ein lange vorhandener Charakterzug des FCSP stark verändert hat.

Auch wenn die Saison corona-bedingt eigentlich großer Schrott ist, weil wir eben diesen Sinneswandel nicht im Stadion erleben dürfen, so wäre es fast zu wünschen, dass sie noch 5-6 Spieltage mehr hätte. Wo die Reise dann noch hingehen könnte, ist wohl allen bewusst. Und natürlich werden sich viele die Frage stellen, was wohl aus der Saison geworden wäre, wenn es in der Hinrunde in den Spielen gegen Osnabrück, Braunschweig und Aue mehr als nur einen Punkt gegeben hätte. Aber hätte es dann auch die Nachjustierungen im Winter gegeben? Wäre die jetzige Formation dann überhaupt so entstanden? Ich glaube, dass diese Phase nötig war, um in die jetzige zu kommen.

So bleiben neun Punkte Rückstand bei noch sechs ausstehenden Spielen. Das ist nicht schaffbar, nicht aufholbar. Oder etwa doch? In den letzten drei Jahren haben jeweils 57 Punkte gereicht für den 3.Platz. Es sind noch 18 zu vergeben. Der FC St. Pauli hat 41.

Go with the flow!
// Tim

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9 thoughts on “Drei Punkte im Erzgebirge – Go with the flow!

    1. Schöne Analyse-Formulierungen Tim, die sensibel-objektiv und durchblickend-nachvollziehbar die Spielverläufe wiederspiegeln! Ein wahrer Genuss deinen mit viel Herz geschmückten passenden Worte folgen zu dürfen!

  1. Ach Tim, Du bist nicht alleine. Dieses Team ist über Können bis Wollen das stärkste, welches ich je in braun-weiß sah. Und mir blutet jetzt schon das Herz, wenn ich ans Saisonende denke und daran, dass dieses phantastische Team nach dem Aufstieg auseinandergerissen wird…

  2. Es bleibt die leise Hoffnung, das nur Einer der Beiden herrausragenden Leihspieler geht; das wenn wir Finn Ole verkaufen müssen -was angesichts des kolportierten Marktwertes von 2,5 Millionen OI und Nix nach Ablauf des Vertrages in 2022 natürlich richtig wäre-, dieses Geld mal komplett vernünftig reinvestiert wird, und natürlich das auf jeden Fall Kyereh bleibt -Smith und Reginiussen natürlich auch-, sprich, das wir wenigstens halbwegs dieses geile Gerüst zusammenhalten können, und dann nächste Saison aber wirklich mal Oben angreifen! Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder was….

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