Wer mit offenen Augen durchs Viertel geht, wird sie öfter sehen: Touri-Gruppen, die von einem Guide erzählt bekommen, was genau es denn mit diesem berühmten und berüchtigten Stadtteil so auf sich hat. Da gibt es solche und solche – und immerhin auch einen Veranstalter, der das alles zur Unterstützung sozialer Einrichtungen und kultureller Projekte macht, die Kurverwaltung St. Pauli e.V.
Ich traf mich mit Sönke Albertsen und Klaas Eßmüller im Feldstern, die beide im Vorstand des Vereins sitzen, um über die Kurverwaltung zu sprechen. Bevor ich dies tat, begleitete ich Sönke auf der Führung durchs Schanzenviertel, die immer am ersten Samstag im Monat um 15.00h angeboten wird.
Etwa 90 Minuten führte Sönke die kleine Gruppe durch „die Schanze“, startend am Bahnhof, über das ehemalige Schlachterei-Gelände und dann die vielen kleinen Straßen und Hinterhöfe, ehe wir vorm Bunker an der Feldstraße endeten. Und ja, gerade für mich als „Zugezogenen“ waren da furchtbar viele neue Informationen bei.
MillernTon: Sönke, Klaas, vielen Dank für Eure Zeit – erzählt doch zum Einstieg mal, was die Kurverwaltung überhaupt ist, wie und warum sie gegründet wurde.
Klaas: Kurverwaltung St. Pauli e.V. wurde 1998 gegründet. Der konkrete Anlass war die damalige Schließung des Hafenkrankenhauses durch den Senat. Der Stadtteil St. Pauli war finanziell benachteiligt, mit ohnehin schlechter medizinischer Versorgung – und trotzdem war es politischer Wille, diese Schließung durchzuziehen. Dies war 1996 aus Kostengründen beschlossen worden und es regte sich (für den Senat) überraschend viel Protest, u.a. entstand daraus die Bürgerinitiative „Ein Stadtteil steht auf“, mitbegründet von Holger Hanisch, der dann auch die Kurverwaltung und das „CaFée mit Herz“ mit ins Leben rief.
Mit dem wachsenden touristischen Interesse an St. Pauli sollte für den weiterhin sehr armen Stadtteil zumindest irgendwas positiv abfallen, um die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Direkt mit Gründung versuchte die Kurverwaltung dies mit der Erhebung einer Kurtaxe an der U-Bahn St. Pauli, wo mit der Klingelbüchse 50 Pfennig gesammelt werden sollten. Der Erfolg war aber übersichtlich und es wurde recht schnell wieder eingestellt.
Was aber dauerhaft daraus entstand, waren die Kiezführungen, die die interessanten Geschichten rund um St.Pauli erzählen, die eben weit über die Lichter der Reeperbahn hinausgehen.
Die Führungen werden von „Kurschatten“ durchgeführt, wir sind allesamt ehrenamtlich unterwegs. Von dem dabei gesammelten Geld werden soziale und kulturelle Initiativen unterstützt.
MT: Aber wie kommt man überhaupt darauf, das dann „Kurverwaltung“ zu nennen? Ich denke da an idyllische Orte wie Bad Salzuflen.
Klaas: Der augenzwinkernde Gedanke dahinter war, dass auch hier alles für einen Kurort vorhanden ist. Das „Heilwasser“ war Astra, welches damals noch auf St.Pauli gebraut wurde. In den zahlreichen Klubs gibt es „Kurkonzerte“, am Hafen die frische Luft – es fehlte also nur die Kurverwaltung.
Sönke: So haben wir den Stadtteil zum Kurort erklärt und liefern auf den Führungen die „Kurschatten“ gleich mit. Es gilt ja auch die Bäderregelung: Geschäfte dürfen am Sonntag geöffnet haben.
MT: Und wie seid Ihr selbst dazu gekommen?
Sönke: Ich bin 1989 vom Dorf nach Hamburg gezogen, habe den Stadtteil und seinen Fußballverein kennen- und lieben gelernt. Und trotzdem kannte auch ich lange Zeit nur die Reeperbahn und fünf-sechs Läden drumherum. 2007 bin ich dann ganz klassisch mitgeschnackt worden, habe mich in das Thema eingearbeitet, mit den Führungen begonnen und es macht unheimlich Spaß.
Klaas: Ich bin 2000 nach Hamburg gezogen und habe damals recht früh als eine der ersten Erkundungsmaßnahmen in dieser Stadt eine der Kiezführungen mitgemacht – und der Kurschatten ging mit uns direkt durch die Hotels! Das wäre heute nicht mehr möglich.
Zur Kurverwaltung bin ich aber erst Anfang 2019 gekommen. Ich musste nach einem Achillessehnenriss mein Hobby Volleyball „an den Nagel hängen“ und habe mir eine neue Aufgabe gesucht – und da diese Führung mich nachhaltig beeindruckt hatte und ich das Thema seitdem immer verfolgt hatte, lag dies dann für mich nahe.
MT: Ihr habt auf Euren Führungen ja ein immenses Detail- und Hintergrundwissen. Wie bereitet Ihr neue Kurschatten auf die Touren vor?
Sönke: Es gibt zwar ein Grundmaterial, welches wir zur Verfügung stellen, aber ansonsten wächst das mit der Zeit und der Erfahrung. Meine ersten Führungen waren Zusammenstellungen aus Führungen, an denen ich selber teilgenommen habe. Mit der Zeit entwickelt man nicht nur seinen eigenen Stil, sondern erlebt und erfährt ja auch ständig neue Dinge. Geschäfte schließen und neue eröffnen, alles verändert sich. Von dem, was ich damals erzählt habe, gehört heute vielleicht noch 20% zu meinen Inhalten, der Rest ist selbst erarbeitet oder erfahren.
Jeder Kurschatten hat sicher auch seine persönliche Note. Bei Klaas und mir kommt der FC St. Pauli eigentlich immer irgendwie vor, bei einem anderen Kollegen fällt der Begriff Fußball vielleicht nie. Genau dies ist auch eine unserer Stärken, denn Gäste melden uns häufig zurück, dass sie zum wiederholten Male teilnehmen und jede Führung doch immer wieder anders ist. Wir versuchen auch immer, die Führungen an die Teilnehmenden anzupassen. Dem Gast der zum ersten Mal in Hamburg ist zeigt man andere Inhalte als gebürtigen Hamburger:innen, die vielleicht eher ein paar unbekannte Ecke entdecken wollen.
MT: Was für Touren gibt es denn überhaupt?
Sönke: Die St.Pauli-Tour ist der Klassiker, die findet an jedem Freitag statt, von März bis Ende November, außer Karfreitag. An jedem ersten Samstag im Monat gibt es die Heimatkunde im Schanzenviertel-Tour. Darüber hinaus gibt es unregelmäßige Touren wie die Tour auf Plattdeutsch oder zu Widerstand und Verfolgung auf St. Pauli, die wir ja auch schon mal in Zusammenarbeit mit dem Fanladen angeboten haben.
Außerdem kann man uns für Firmenevents oder Sportvereine für Teamabende buchen. Auch Fremdsprachen bieten wir auf Anfrage an. Darüber hinaus gibt es auch immer mal wieder kulturelle Veranstaltungen wie Lesungen oder ähnliches.
MT: Was für Schwierigkeiten hat die Pandemie Euch bereitet?
Klaas: Mit den Touren war dann natürlich erst mal Schluss. Mit dem Lockdown hat man gesehen, dass das touristische Leben auf dem Kiez komplett zum Erliegen kam, das betraf uns dann natürlich genauso. Und die gebuchten Touren von Firmen und Vereinen, die fehlten natürlich auch komplett.
Als es jetzt wieder erlaubt war, haben wir ein Hygienekonzept erstellt, welches aktuell 20 Leute pro Tour erlaubt, was auch ausreicht. Die Gäste müssen 1,5m Abstand zueinander halten, der Kurschatten drei Meter – das klappt auch sehr gut.
MT: Schauen wir nochmal auf das Geld, was dabei rum kommt. Wie verteilt Ihr das denn?
Klaas: Wir sind ein eingetragener, gemeinnütziger Verein. Wir bekommen i.d.R. zweckgebundene Spendenanträge von sozialen Gruppen und Initiativen für Projekte auf St. Pauli oder in den angrenzenden Stadtteilen. Über Spendenanträge bis 1.000€ wird auf den monatlichen Treffen der Kurschatten entschieden. Alle größeren Beträge müssen vom Kurdirektorium bewilligt werden – das ist prominent besetzt und vielleicht am ehesten mit einem Aufsichtsrat zu vergleichen.
MT: Könnt Ihr mal ein paar Beispiele dafür nennen, was von Euch gefördert wurde?
Klaas: Die Fördergelder werden jährlich auf unserer Internetseite veröffentlicht. In diesem Jahr gingen die Gelder u.a. an Teestube Sarah, die Krankenstube im ehemaligen Hafenkrankenhaus oder die Bergedorfer Engel. Die Teestube ist ein Projekt welches Tee, Schokolade oder auch Kondome an Prostituierte verteilt. Die Krankenstube unterstützt u.a. Obdachlose und da haben wir einen neuen Fernseher finanziert, weil das für die Obdachlosen dort oft die einzige Informationsquelle zum Weltgeschehen ist.
Sönke: Die Krankenstube hat auch die größte Einzelspende der letzten Jahre erhalten, 3.600€ für drei Krankenbetten – obwohl sie eigentlich nur ein Bett beantragt hatten, wir fanden dies aber so wichtig und unterstützenswert.
Klaas: Die Bergedorfer Engel verteilen auf der Reeperbahn Essen an Obdachlose, da haben wir die Kfz-Steuer für einen Transporter übernommen. Und natürlich gibt es zig weitere Projekte wie das Cafée mit Herz, die Alimaus, Hajusom oder die St.Pauli-Kirche. Da sind sicher „Stammkunden“ dabei, wir sind aber auch immer offen für neue Projekte.
MT: Wie seid Ihr denn personell aufgestellt – braucht Ihr noch neue „Kurschatten“?
Sönke: Unbedingt! Wir sind aktuell etwa zehn Personen, die die Führungen anbieten. Da haben uns in der Pandemie auch ein paar verlassen, wir könnten also schon Nachwuchs gebrauchen und es wäre natürlich super, wenn sich unter den MillernTon-Leser:innen jemand finden würde.
MT: Und was sollten die mitbringen?
Klaas: Dafür sollte man in erster Linie Bock haben, Menschen über den Kiez zu führen und hinter die Kulissen blicken zu lassen. Es hilft, wenn man Spaß am Reden hat, offen für andere Menschen ist und eine Affinität zu St. Pauli und den angrenzenden Stadtteilen hat und auch ein Interesse daran, sich da hineinzulesen.
Und dann braucht es natürlich Zeit. Eine gebuchte Tour dauert zwar „nur“ etwa zwei Stunden, aber das braucht auch Vor- und Nachbereitung. Im Schnitt, mit den buchbaren Touren, kommt man da so im Schnitt auf eine Tour pro Monat pro Person.
Wer sich das grundsätzlich vorstellen kann, soll sich einfach mal bei uns melden oder auf ne Tour mitkommen und vielleicht mal zum nächsten Kurschatten-Treffen kommen, Termin und Ort teilen wir dann mit.
MT: Wie seht Ihr denn die anderen Gruppen und Touren, die über den Kiez ziehen?
Klaas: Wir sind der einzige Anbieter, der die Touren ohne kommerziellen Hintergrund anbietet. Leider sind wir u.a. dadurch auch medial nicht so präsent wie Andere. Aber dafür versuchen wir es zu vermeiden, vom „1. FC St. Pauli“ zu sprechen – wie kürzlich von weitem gehört…
Sönke: Es gibt sicher gute Mitbewerber, mit denen man ein kollegiales Verhältnis hat und die man unterwegs auch freundlich grüßt, beispielsweise Hempels Beatles Tour mit ihrer Ukulele. Es gibt aber auch bei der Masse dann viele andere, vorsichtig formuliert. Wir haben ja auch einen kulturellen Anspruch und da würde es nicht passen, wenn wir alle 90 Sekunden auf Krampf ’nen Schenkelklopfer präsentieren. Wir machen das sicher auch unterhaltsam und auch mal lustig, aber wer da volltrunken im Rahmen des Junggesellenabschieds eine Tour machen möchte – nun ja, für den gibt es „passendere“ Veranstalter als uns.
MT: Letzte Frage: Was könnt Ihr unseren Leser:innen denn hier jetzt mal verraten, was sie bisher vielleicht noch nicht über St. Pauli wussten? Es darf natürlich auch nur weitergelesen werden, wenn man sich vorher vertraglich verpflichtet demnächst eine Eurer Touren zu besuchen, wenn man das dann wirklich noch nicht wusste.
Sönke: Die St. Pauli-Kirche wurde nach der Besetzung durch die napoleonischen Truppen (1813-14) im Jahr 1820 neu erbaut. Das Geld war aber damals knapp, so dass als Baumaterial Gegenstände verwendet wurden, die zuvor eine andere Nutzung erfahren haben. Die Bretter des Bodens der Kirche waren ausgediente Schiffsplanken, die im Hafen angefallen sind. Sie haben somit früher die ganze Welt gesehen. Die Kirche ist übrigens eine sehr lebendige Kirche. 2013 verbrachten 80 afrikanische Flüchtlinge dort ein halbes Jahr im Kirchenasyl. Während des Reeperbahnfestivals finden auch Konzerte in der Kirche statt.
Klaas: Oder aus einem komplett anderen Bereich: Es gab auf St. Pauli nicht nur eine Helgoländer Allee sondern auch eine Sylter Allee – fast parallel dazu. Die Straße wurde dann zugeschüttet und mit einem Bunker bebaut – einem von handgezählten sechs Bunkern auf St. Pauli.
MT: Vielen Dank für Eure Zeit und alles Gute für Euch und die Kurverwaltung!
// Maik
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Schön, dass hier neben Fußball Platz für solche Sachen ist. Danke. 👍
Sechs Bunker auf St. Pauli?! Ich kenne einen Bunker auf dem Heiligengeistfeld, einen Bunker an der Schomburgstraße, Ecke Unzerstraße (Kebap – Kulturenergiebunker) (wobei das wohl schon Altona ist?), einen Bunker in der Otzenstraße auf Höhe der Bernstorffstr. (wobei, auch der ist bereits in Altona)…
Hm. Hast du dir verraten lassen, wo diese 6 Bunker sind?