Am Samstag trifft der FC St. Pauli am Böllenfalltor auf den SV Darmstadt 98. Das wird für den aktuellen Spitzenreiter alles andere als ein einfaches Spiel, denn Darmstadt 98 ist neben dem FCSP das formstärkste Team der Liga. Es handelt sich also um ein echtes Spitzenspiel.
(Titelbild: Peter Böhmer)
FC St. Pauli: Wer kann spielen, wer fehlt?
Richtig voll ist der Trainingsplatz am Dienstag gewesen. Abgesehen von Jannes Wieckhoff und Christopher Avevor fehlte kein Spieler verletzungsbedingt. Einzig die Nationalspieler waren teilweise noch auf Reisen, sind nun aber wieder zurück im Kader und verletzungsfrei zurückgekommen, wie Timo Schultz auf der PK berichtete.
Im Aufbautraining befinden sich Franz Roggow und Lukas Daschner. Alle weiteren Spieler sind grundsätzlich einsatzfähig, wobei es bei dem ein oder anderen noch nicht für die vollen 90 Minuten reichen wird. Bei diesen Spielern wird nun Stück für Stück die Kondition aufgebaut, erzählt Schultz. Wieder voll einsatzfähig ist Leart Paqarada, der nach seiner leichten Knieverletzung zuletzt etwas kürzer treten musste, am Donnerstag aber wieder ins komplette Training eingestiegen ist.
Entsprechend dürfte der Konkurrenzkampf nicht nur um die Plätze in der Startelf, sondern bereits um den Spieltagskader enorm hoch sein.
SV Darmstadt 98: Wer kann spielen, wer fehlt?
Vergleicht man den aktuellen Kader mit dem der Vorsaison, fällt schnell auf, dass einige wichtige Spieler den Klub verlassen haben: Torschützenkönig Serdar Dursun (Fenerbahce Istanbul), Innenverteidiger Lars Lukas Mai (Werder Bremen), sowie Führungsspieler Victor Pálsson (Schalke 04) und Nicolai Rapp (Werder Bremen). Zudem ist Trainer Markus Anfang nach Bremen gewechselt. So war die aktuelle Entwicklung alles andere als absehbar. Nicht wenige prophezeiten den Lilien eine schwere Saison in der 2.Bundesliga.
Doch anstelle von Abstiegskampf macht sich in Darmstadt leise Hoffnung auf einen Aufstiegskampf breit, im Windschatten einiger weiterer Klubs. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat Trainer Torsten Lieberknecht, der nach seiner erfolgreichen Zeit in Braunschweig etwas von der Bildfläche der 2. Liga verschwunden war.
Die Pressekonferenz vor dem Spiel hat in Darmstadt noch nicht stattgefunden (bis Donnerstagmittag), aber Lieberknecht muss im Spiel gegen den FC St. Pauli wohl noch auf Lasse Sobiech verzichten. Der hatte mit einer langwierigen Sehnenreizung zu kämpfen. Nun ist er zwar wieder zurück auf dem Trainingsplatz, aber es ist mindestens fraglich, ob es bereits für einen Einsatz reichen würde. In seiner Abwesenheit haben sich Patric Pfeiffer und Thomas Isherwood aber auch ein wenig auf den beiden Innenverteidiger-Positionen „festgespielt“.
Ebenfalls wohl nicht spielen wird Tim Skarke, der nach schwerer Verletzung noch im Aufbautraining ist, dort aber enorme Fortschritte macht. Das gilt auch für Marvin Mehlem, der nach einer Knie-OP im Sommer lange ausgefallen ist. Wohl weiterhin ausfallen wird Mittelfeldspieler Fabian Schnellhardt, der sich diesen Herbst einen Muskelbündelriss zuzog.
Was hat Darmstadt zu bieten?
Ich möchte hier nichts beschwören, muss aber erwähnen, dass der SV Darmstadt punkte- und toremäßig nach 13 Spieltagen ein wenig über seinen Verhältnissen lebt. Vergleicht man die expected Goals mit den real erzielten Toren, fällt auf, dass die Darmstädter rund zehn Tore mehr erzielt haben als nach xG zu erwarten wären (31 Tore, xG bei 21). Nicht ganz so krass sieht es bei den gefangenen Toren aus: Das Team hat vier Tore weniger kassiert als nach xG zu erwarten (16 Gegentore, xGa bei 20.5). Das macht zusammen 14 Tore, also mehr als ein Tor pro Spiel. Kein Team in der Liga liegt ansatzweise so sehr über seinen xG-Werten wie Darmstadt.
In der Offensive hängt die enorme Diskrepanz zwischen erzielten und zu erwartenden Toren direkt mit den beiden Stürmern zusammen. Phillip Tietz (10 Tore, xG: 5.63) und Luca Pfeiffer (9 Tore, xG: 4.82) sind in Top-Form und erzielen beide deutlich mehr Tore als nach xG wahrscheinlich. Es war vor der Saison sicher so nicht zu erwarten, dass Tietz und Pfeiffer das toremäßig beste Stürmer-Duo der Liga stellen. Tietz kam aus Wiesbaden nach Darmstadt, Pfeiffer leihweise vom FC Midtjylland aus Dänemark. Ob diese Spieler auch in der 2. Liga für Tore sorgen können, war alles andere als klar. Nun liegen sie zusammen bei 19 Saisontreffern. Die Hälfte der Klubs in der 2. Liga hat mit dem gesamten Team weniger erzielt.
Der Blick in die oben gezeigte Pizza-Grafik zeigt, dass Darmstadt in vielen Bereichen eher wie Platz 15 und nicht wie Platz 4 spielt. Darmstadt lässt enorm viele Chancen zu (vierthöchster gegnerischer xG), produziert aber auch viele eigene. Das war in der Vorsaison auch der Fall, noch unter der Leitung von Markus Anfang, als nur drei Teams mehr Tore geschossen hatten und nur vier Teams mehr Gegentore bekamen. Spiele mit Beteiligung des SV Darmstadt 98 waren vor allem immer ein Spektakel (das 2:2 im Hin- und das 3:2 im Rückspiel gegen den FC St. Pauli sind gute Beispiele dafür).
Unter der Leitung von Torsten Lieberknecht hat sich an der hohen Anzahl an eigenen und gegnerischen Chancen wenig verändert. Wohl aber fast der gesamte Rest. In Darmstadt wurde erst unter Leitung von Dimitrios Grammozis und eben unter Anfang mehr und mehr eine auf Ballbesitz basierende Spielidee entwickelt. Das wurde unter Lieberknecht wieder eingerissen. Darmstadt 98 ist mehr oder weniger wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und fokussiert sich wieder auf Umschaltmomente und eine kompakte Defensive. Die zweitwenigsten Pässe ins letzte Drittel und Ballkontakte im gegnerischen 16er, sowie nur Platz 15 in Sachen Ballbesitz zeigen dies.
Ob der FC St. Pauli trotzdem Lehren aus der Vorsaison in die Vorbereitung auf das Spiel mitnehmen kann, habe ich daher mal Timo Schultz gefragt: „Das glaube ich in dem speziellen Fall nicht. Sie haben sich im Laufe der Saison ihr System mehr oder weniger erarbeitet. Dabei spielen sie eigentlich so, als wenn sie schon länger zusammen spielen würden. Das wird für uns schon ein komplett anderes Spiel als letzte Saison gegen Darmstadt.„
Der Fokus des Darmstädter Offensivspiels liegt dabei auf den Außenbahnen, die mit Honsak und Manu (oder Goller) sehr viel Tempo bieten. Von den beiden Spitzen lässt sich dann häufig Pfeiffer etwas tiefer fallen und führt mehr Zweikämpfe, geht häufiger ins Dribbling (da ist er richtig stark) und bildet so eine gute Verbindung ganz nach vorne. Phillip Tietz ist dann eher schon der klassische Zielspieler, der meist das Endglied der Kette bildet und vorher relativ wenig ins Spiel eingebunden wird. Dieses Offensivspiel, mit hohem Tempo auf der Außenbahn (Spieler suchen viele direkte Duelle) und zwei Stürmern im Zentrum (die entsprechend mannorientiert verteidigt werden müssen), stellt fast alle gegnerischen Teams vor Probleme. Denn die offensiven Außen müssen bestenfalls gedoppelt werden, wenn sie im Ballbesitz sind. Das können sie aber nur bedingt aus der Innenverteidigung heraus, weil dort ja zwei Stürmer sind. Es muss also jemand aus der Raute rausziehen beim FCSP. Da ist eine gute Abstimmung nötig und viele Klubs hatten genau damit große Probleme.
Der SV Darmstadt 98 ist offensiv also richtig stark, aber lässt defensiv auch enorm viel zu. Es kommt also auf das eigene Spiel an. Der FCSP muss versuchen seine offensive Wucht zu entfalten, ohne aber die notwendige Rückverteidigung vermissen zu lassen. Wie kann man Darmstadt bespielen, Timo Schultz?
Gerade mit den schnellen Außen wird es ein Schlüssel sein, dass wir sie nicht ins Aufdrehen kommen lassen, dass wir da eng dran sind. Wir müssen versuchen den Ball direkt in der ersten Phase des Gegenpressings, also direkt nach Ballverlust wieder zurückgewinnen. Aber ich muss auch von meinen Abwehrspielern verlangen, dass sie die direkten Duelle gewinnen.
Timo Schultz über die Balance zwischen Offensive und Defensive gegen Darmstadt
Wir wollen mutig nach vorne spielen, wir werden auch wieder Risiko eingehen im Ballbesitz. Das zeichnet uns aus. Das wird uns vielleicht mal auf die Füße fallen, aber im Grunde sind wir mit unserer Rückraumsicherung sehr gut dabei gewesen. Das Gegenpressing war mal so, mal so – da haben wir diese Woche nochmal einen Schwerpunkt drauf gelegt.
Mögliche Aufstellung
Der SV Darmstadt 98 hat in dieser Saison sowohl ein flaches 4-4-2, aber auch ein 4-4-2 mit Mittelfeldraute ausprobiert. In den letzten Spielen war es dann eher das flache 4-4-2, was sie spielten. So erwartet auch Timo Schultz das Team: „Wenn man die letzten erfolgreichen Spiele sieht, dann haben sie schon ganz klar ihre Stärken in einem flachen 4-4-2 gehabt, wobei sich dann mal ein Stürmer hinter den anderen zurückfallen lässt im Defensivverhalten. Daher ist das die erste Option mit der wir rechnen.„
Sollte Darmstadt 98 nicht verletzungsbedingt auf Spieler verzichten müssen, gibt es eigentlich nur zwei Positionen, auf denen es Veränderungen geben könnte: Benjamin Goller spielte zu Saisonbeginn stark auf, wurde dann aber von einer Angina zurückgeworfen. Seinen Platz auf der Außenbahn übernahm Braydon Manu, der nicht restlos überzeugte. Argumente für einen Startelfeinsatz haben trotzdem sicher beide.
Auch auf der Doppel-Sechs gibt es ein Fragezeichen. Sicher starten dürfte Tobias Kempe, der nicht nur körperlich robust ist, sondern auch als Standard-Schütze enorm gefährlich für den FC St. Pauli. Neben ihm spielte zuletzt Klaus Gjasula und bleibt wohl auch die erste Wahl, weil Fabian Schnellhardt noch verletzt ist. Gegen Nürnberg, als Gjasula corona-bedingt fehlte, ersetzte ihn Kapitän Fabian Holland auf der Sechs und machte dort aber ebenfalls einen sehr guten Eindruck.
Beim FC St. Pauli rechne ich mit einigen Veränderungen in der Startelf. Zum einen sagte Timo Schultz auf der PK, dass Eric Smith zum Einsatz kommen wird, auch wenn es bei ihm noch nicht für 90 Minuten reicht. Daher tippe ich darauf, dass er starten wird. Allerdings ist gerade das Sturm-Duo Tietz/Pfeiffer eine echte Herausforderung auch für die Sechser-Position, welches dann defensiv wieder ein wenig für Afeez Aremu sprechen würde. Auf der anderen Seite kann der FC St. Pauli mit viel Ballbesitz rechnen, da Darmstadt genau darauf keinen Fokus hat. Das würde dann eher für die Spielstärke von Smith sprechen. Eine ganz schwierige Entscheidung.
Im Angriff rechne ich mit Etienne Amenyido in der Startelf. Sein Tempo, seine Dribbelstärke und seine Bewegungen zwischen den Ketten könnten dem Spiel des FCSP sehr gut tun. Seine Luft wird vermutlich auch nicht für die vollen 90 Minuten reichen, aber mit Matanović, Makienok und vor allem Dittgen steht Ersatz bereit (ich wiederhole mich: Dittgen ist der perfekte Einwechselspieler). Der FCSP hat in der Offensive aktuell ein unfassbares Überangebot.
Auf der rechten Halbposition rechne ich mit Finn Ole Becker, da es bei dem Spiel auch um sicheres Passspiel gehen wird. Jackson Irvine bringt ja aber doch auch immer eine ganz andere Physis mit rein, die dann auch eher für ihn spricht, gerade gegen ein physisch starkes Mittelfeld von Darmstadt. Es dürfte auch viel davon abhängen, wie das Trainer-Team beide im Gegenpressing bewertet. Ebenfalls eine schwere Entscheidung.
Es wird ganz sicher ein sehr schweres Spiel für den FC St. Pauli. Der SV Darmstadt 98 ist enorm stark zuhause. Nur zu Saisonbeginn, als corona-beteutelt nur ein Rumpf-Kader zur Verfügung stand, gab es eine Niederlage gegen Regensburg. Seitdem hat Darmstadt am Böllenfalltor alle fünf Spiele gewonnen, bei einem atemberaubenden Torverhältnis von 16:1 (das Gegentor war der Ehrentreffer von Ingolstadt im August beim 6:1-Sieg von Darmstadt). Und zuletzt wurden mit Werder Bremen und dem 1. FC Nürnberg zwei echte Schwergewichte der Liga zuhause bezwungen. Das letzte Spiel auswärts wurde auf Schalke mit 4:2 gewonnen. Auch wenn sie toremäßig ein wenig über ihren Verhältnissen leben, der SV Darmstadt 98 ist ein echtes Spitzenteam.
Nun kommt aber mit dem FC St. Pauli der Spitzenreiter ans Böllenfalltor. Beide Teams sind enorm stark in der Offensive, vor allem Darmstadt lässt defensiv einiges zu. Der FC St. Pauli ist defensiv bisher stabiler gewesen, aber funktioniert das auch gegen enorm effektive und Standard-starke Lilien? Es ist ein absolutes Topspiel, was wir da am Samstag sehen werden. Und die Vorzeichen deuten darauf hin, dass es ein offensiver Schlagabtausch werden könnte. Ich bin heiß wie Frittenfett.
Forza!
//Tim
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