„Druck ist ein Privileg“

„Druck ist ein Privileg“

Kurz vor Saisonende nimmt der Druck auf den FC St. Pauli zu, der Bundesliga-Aufstieg wird immer greifbarer. Wie gehen die Verantwortlichen damit um?
(Titelbild: Peter Boehmer)

Wenn ich Artikelideen habe, dann schreibe ich sie oft skizzenhaft auf einen dieser kleinen Klebezettel und bappe sie unten an den Monitor, um sie erstmal wirken zu lassen. Verfestigt sich die Idee, dann kommt oft ein zweiter dazu, unten an den ersten herangeklebt. Und wenn dann die Entscheidung fällt, dass diese Idee einen Artikel über den FC St. Pauli wert ist, dann gehen diese Klebezettel in die digitale Welt über.

Artikel-Ideen für den Mülleimer

Wichtig für diesen Artikel ist, was mit den Klebezetteln passiert, wenn ihr Inhalt bereits in einen Artikel-Entwurf mündeten oder wenn zuvor entschieden wurde, dass da nicht genug Fleisch am Knochen ist, um aus der Idee einen ganzen Artikel für den MillernTon zu schreiben: Sie landen in dem kleinen Mülleimer neben meinem Schreibtisch. Das passiert nicht arg- oder lieblos, vielmehr wird dieser Vorgang zelebriert. Der Klebezettel wird zuerst möglichst kugelförmig geknüllt. Ein paar Kanten und Dellen lassen sich nicht verhindern, aber massive Unwuchten oder Ecken, die wie ein Segel im Flug wirken, müssen dringend verhindert werden. Denn das Ding soll schließlich im Mülleimer landen. Dann zurücklehnen, durchatmen, Arm oben lassen (auch beim Durchschwingen!) und loslassen…

Warum ich einen Artikel so anfange? „Umgang mit Druck beim FC St. Pauli“ stand auf einem dieser Zettel, den ich am Dienstag weggeworfen habe. Das habe ich getan, weil daraus nun dieser Artikel geworden ist. Und irgendwie ist das passend. Denn jedes Mal, wenn ich zum Wurf ansetze (und ich könnte schwören, dass es viele ganz genau so machen!), stelle ich mir vor, dass es von enorm großer Bedeutung ist, dass diese verdammte, unförmige Kugel ihr Ziel nicht verfehlt. Manchmal stehe ich an der imaginären Freiwurflinie, manchmal blickt mir Manuel Neuer elf Meter entfernt in die Augen. Meine Trefferquote: Maximal mittelmäßig, obwohl ich ich die Kugel angesichts der Distanz auch einfach in den Eimer legen könnte. Auffällig: Wenn mein Bürokollege dabei zuschaut, dann lasse ich die Erfolgsquote lieber gleich mit im Mülleimer verschwinden.

Das ist wohl auch einer der Gründe, warum der Zettel „Umgang mit Druck beim FC St. Pauli“ bereits lange an meinem Monitor klebte. Denn wenn mir das – erst erwartungsfrohe, dann oft enttäuschte – Zuschauen des Bürokollegen schon zittrige Hände bereitet, wie ergeht es dann wohl Fußballprofis? Wie ist es wohl um den Druck bestellt, wenn man weiß, dass zigtausende Menschen im Stadion zuschauen? Und wie ist es wohl, wenn man dabei auch noch weiß, dass es um den Aufstieg in die Bundesliga geht?

Afolayan betont entspannt und fokussiert

Einen bemerkenswerten Umgang mit dieser Thematik scheint Dapo Afolayan zu pflegen: „Der Druck ist ein Privileg,“ erklärte er am Dienstag in einer Medienrunde und ergänzte, dass man sich als Profifußballer glücklich schätzen könne, eben genau das zu sein. Entsprechend locker scheint er die aktuelle Tabellensituation zu nehmen. Er sieht auch das eher als Privileg an: „Es gibt viele, bei denen es in dieser Phase der Saison um nichts mehr geht. Wir haben uns aber in eine Position gebracht, in der wir versuchen können, etwas zu erreichen.“

Aber ganz so einfach ist das natürlich nicht. Afolayan erklärte, dass man sich darüber im Klaren sein müsse: „Du bekommst nicht mehr Punkte für einen Sieg als zu Saisonbeginn.“ Diese Einstellung, so der 26-jährige, sei notwendig, „damit wir die Leistung bringen, die nötig ist.“ Denn eine gewisse Spannung sei aufgrund eines möglichen Aufstiegs schon vorhanden, gibt auch Afolayan zu. Aber: „Wenn du dich darauf zu sehr fokussierst, dann wird es nicht passieren.“ Entsprechend hat er für sich festgestellt: „Was mir am besten hilft, ist von Spiel zu Spiel zu denken. Das werde ich auch jetzt so machen.“

Aufstieg auch in der Kabine Thema

Klar, von Spiel zu Spiel denken hilft dabei im Moment zu bleiben, gibt die Möglichkeit, sich voll auf die Spielsituation konzentrieren zu können. Das hat uns Diplompsychologe Stefan Westbrock vor einigen Wochen erklärt (Mit freiem Kopf zum Aufstieg). Dabei ist es laut Westbrock auch gar nicht verboten, den gemeinsamen Traum vom Aufstieg zu pflegen: „Natürlich sind solche Träume und Visionen gut, wenn sich die Gruppe auf ein ‚Wir wollen alles dafür tun!‘ versammelt,“ erklärte er uns. Allerdings laufe man Gefahr, dass man „nur auf das Ziel und nicht auf den Weg dorthin“ blicke, was dann eben die Ablenkung vom Spiel bedeuten würde.

Es ist also ein schmaler Grat, auf dem sich der FC St. Pauli gerade bewegt. Angesichts des immer konkreter werdenden Aufstiegsszenarios dürfte es viel schwieriger sein, den Fokus nur auf das kommende Spiel zu richten und dessen mögliche Auswirkungen währenddessen zu ignorieren. Das weiß auch Fabian Hürzeler, der erklärte, dass man team-intern auch niemandem verbiete, ein größeres Ziel zu verfolgen: „Es ist wichtig, Visionen und Ziele im Leben zu haben. Die geben dir Orientierung und ein Versprechen, niemals aufzugeben.“ Aber er ließ auch durchblicken, dass innerhalb des Teams durchaus anders mit der Zielsetzung umgegangen werden könnte, berichtete vielsagend: „Es kommt nicht alles raus, was intern diskutiert und besprochen wird“ und deutete an, dass man durchaus individuell mit unterschiedlichen Motivationszielen arbeite: „Nicht jeder Spieler sieht es als Motivation an, wenn man sagt, dass der Aufstieg ganz klar das Ziel ist. Das wirkt für einige hemmend, für andere aber positiv.“

Deutschland, Hamburg, 29.11.2023, Fussball 2. Bundesliga Fabian Hürzeler, Trainer des FC St. Pauli auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen den Hamburger SV Copyright: Peter Boehmer
Fabian Hürzeler macht inzwischen keinen Hehl mehr daraus, dass beim FC St. Pauli team-intern wohl durchaus über den Aufstieg gesprochen wird, dieser womöglich auch für einige als Teil der Motivation dient. // (c) Peter Boehmer

Hürzeler: Crunchtime eine Challenge

So scheint das Wort „Aufstieg“ also doch den Weg in die Kabine gefunden zu haben, bei einigen mehr, bei anderen weniger. Und Fabian Hürzeler macht auch gar kein Geheimnis daraus, dass auch er selbst eine Veränderung wahrnimmt: „Es ist nicht wegzudiskutieren, dass jetzt Crunchtime ist. Man merkt, dass es um was geht.“ Genau dies sieht er als Herausforderung an: „Es kommen jetzt Drucksituationen auf. Da geht es nun darum, das abzurufen, was die Mannschaft die ganze Saison abgerufen hat. Das wird die nächste Challenge sein.“

Trotzdem machte er auf der Pressekonferenz vor dem Rostock-Spiel klar, dass der Fokus größtenteils auf der kommenden Partie liegt, der Aufstieg noch ein Stück weg ist: „Das Ziel ist noch nicht zu sehen, sondern der nächste Gegner.“
Dass dieses Konzentrieren auf den kommenden Gegner gelingt, davon ist Dapo Afolayan überzeugt: „Eine der Stärken unseres Teams ist es, dass wir uns gut auf das fokussieren können, was wir tun müssen.“

Hansa nicht nur sportlich fordernd

Der nächste Gegner des FC St. Pauli heißt Hansa Rostock. Zu der aktuellen sportlichen durchaus hochspannenden Situation kommt also auch noch eine ganz besondere Rivalität beider Vereine. Entsprechend steht wohl nicht nur eine sportliche Herausforderung an: Fabian Hürzeler erklärte, dass man sich auch darauf vorbereite, dass das Spiel immer wieder unterbrochen werden könnte. Zudem steckt Hansa Rostock im Abstiegskampf, muss seinerseits unbedingt punkten. Hochkochende Emotionen auf und neben dem Platz sind damit wohl vorprogrammiert. Das weiß auch Afolayan, der aber genau das auch als Herausforderung ansieht: „Emotionen sind ein wichtiger Teil im Fußball. Aber das Kontrollieren der Emotionen ist noch wichtiger.“

Ich habe meine Emotionen selten im Griff, weder im Stadion (und dort zuletzt immer weniger), noch im Büro, wenn ich zum Wurf ansetze. Die Kugel mit der Aufschrift „Umgang mit Druck beim FC St. Pauli“ ist übrigens im Mülleimer gelandet. Aber ich verrate nicht, wie oft ich es versucht habe. Nur so viel: Der FC St. Pauli hat in dieser Saison bisher bewiesen, dass er mit Druck und Herausforderungen besser umgehen kann als ich. Angesichts der differenzierten Sichtweise von Fabian Hürzeler auf diese Thematik ist auch nicht davon auszugehen, dass sich an diesem Kräfteverhältnis etwas ändern wird. Der FCSP begreift den steigenden Druck also als Herausforderung. Oder um es mit den Worten von Afolayan zu sagen: Druck ist ein Privileg.
// Tim

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2 thoughts on “„Druck ist ein Privileg“

  1. Oft hört man ja, dass das Wort „Aufstieg“ so voldemort-mäßig auf den Index gepackt wird.
    Ich würde gern die Wortkombi „von Spiel zu Spiel“ auf den Index setzen. Ich kann es nicht mehr hören (lesen).
    Aber da habe ich natürlich die Fanbrille auf, und durch die kann man am Ende der Saison nie nur bis zum nächsten Spiel gucken, da hast du immer das mögliche Ziel fest im Blick und den Tabellenrechner im Kopf.
    Vier Spiele vor Schluss ist das aber auch in allen Köpfen der Spieler so, macht auch nix, die können da schon mit um … forza!

  2. hoffentlich hat dapo seine emotionen im griff, auch wenn, wie üblich, die schiedsrichter nicht gerade auf seiner seite sind. herr aytekin wurde dafür sogar im fußballfachmagazin extra gerügt… die kommenden vier gegner sind für eine robuste gangart bekannt, nimmt man die fairness tabelle als grundlage. hier belegen sie momentan die plätze drei, vier, fünf und sechs. wobei gilt: je niedriger die platzierung, desto mehr karten haben sie eingesammelt. also dapo: das verspricht zum abschluß nochmal körperlich extrem herausfordernd zu werden. kanalisiere deine emotionen so, daß du sie zu unserem vorteil umwandeln kannst. ne gelbe (aytekin nestelte schon an der gesäßtasche) wie sonntag sollte bei aller emotionalität nicht mehr vorkommen…

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