Immer am Ball bleiben: Psychische und mentale Aspekte des Fußballs

Immer am Ball bleiben: Psychische und mentale Aspekte des Fußballs

Fußball ist auch Kopfsache, klar. Aber wie genau ist eigentlich die Wechselwirkung zwischen mentaler Fitness und sportlicher Leistungsfähigkeit? Und gibt es Unterschiede zwischen Fußballer:innen und der Allgemeinbevölkerung in Sachen psychischer Gesundheit? Lorenz Adlung hat sich das mal angeschaut.
(Titelbild: Stefan Groenveld)

Das unnötige Unentschieden gegen Sandhausen, das fehlende Tor gegen Darmstadt, und jetzt der späte Ausgleich gegen Nürnberg. „Nackenschläge“ nannte Timo Schultz das. Im eingeläuteten Saisonfinale entscheiden über Erfolg und Misserfolg des FC St. Pauli am Ende einer langen Spielzeit nicht bloß das körperliche Können am Ball, sondern auch die mentalen Fähigkeiten. Der Zeitpunkt bietet sich daher an, um über die Wechselwirkung von Fußball und Psyche zu schreiben. Denn sicherlich beeinflusst die mentale Verfassung ein stückweit die Form auf dem Platz. Umgekehrt kann sich das, was auf dem Spielfeld passiert – im Guten wie im Schlechten – auf unsere psychische Gesundheit auswirken.

Psychologische Aspekte im Fußball bestimmen beispielsweise, wie erschöpft sich Profisportler:innen fühlen und wie gut sie mit sich verändernden Erwartungshaltungen umgehen können. Deswegen beschäftigen viele Vereine mittlerweile sogenannte Mentaltrainer:innen.

Mentale Stärke schießt (keine) Tore?

Das Fanzine Der Übersteiger brachte 2017 ein Interview mit einem jener Trainer: Ulrich Oldehaver, der als Coach im Sport-Mental-Training tätig ist. Er trainiere die Athleten darin, dass sie in der Lage seien, ihren Fokus auf das zu richten, was in dem Moment für sie relevant ist, sagt er. „Und ich lehre sie ihre Haltung zu bewahren, den Blick horizontal zu richten, tiefer ins Zwerchfell zu atmen. Diese kleinen, einfachen Dinge haben eine riesige Rückkopplung auf das Mentale.“

Körperhaltung und Atmung können sich also direkt auf die Psyche auswirken, die wiederum die sportliche Leistungsfähigkeit beeinflusst. „Mentale Stärke bedeutet, dass die Athleten in jeder Lage das abrufen, was sie maximal können“, erklärt Oldehaver.

Die Profis des FC St. Pauli betreut der Sportpsychologe Christian Spreckels. Der Fokus seiner Arbeit liege auf der Motivation und dem Umgang mit Stress, verrät er im Interview mit der Uni Hamburg, wo er forscht. Spreckels lehrt die Profis, mit Ängsten und Drucksituationen umzugehen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken, und die Emotionen zu kontrollieren. Dies will der Sportpsychologe durch eine Analyse vorangegangener Erfahrungen in Einzelgesprächen erreichen.

Deutschland, Hamburg, 09.02.2022, Training FC St. Pauli auf den Trainingsplaetzen an der Kollaustrasse Sportpsychologe Dr. Christian Spreckels beobachtet das Training
Sportpsychologe Christian Spreckels (Bildmitte) hat die Spieler des FC St. Pauli beim Training genau im Blick.
(c) Peter Böhmer

Mentaltraining in Deutschland eher marginal

Generell sind sowohl Oldehaver als auch Spreckels der Meinung, in der deutschen Sportlandschaft müsse psychische Gesundheit einen höheren Stellenwert besitzen. Eine wissenschaftliche Übersichtsarbeit von 2017 fand heraus, dass allein ein höheres Budget noch nichts nutzt, wenn es nur in die Behandlung und nicht in die Prävention von psychischen Erkrankungen gesteckt wird. Es geht deshalb nicht ausschließlich um monetäre Aspekte, sondern auch um ethische Werte. Extra Freistoßschichten nach dem Training werden von Fans, Trainer:innen und anderen Spieler:innen als normal angesehen. Wenn ein:e Spieler:in jedoch zusätzliche Hilfe in mentalen Aspekten ersucht, wird das oft negativ bewertet und als Eingeständnis von Schwäche ausgelegt.

In diese Kerbe schlägt auch der Podcast Speaking Out – Mental Health & Football, in dessen Debütfolge Pete Lowe von Playersnet zu Wort kommt. Er setzt sich dafür ein, dass Strukturen geschaffen werden, um Sportler:innen psychologisch noch besser betreuen zu können. Das Ziel sei, bereits das Risiko für das Auftreten psychischer Erkrankungen zu minimieren.

Fußball ist Kopfsache, nicht nur bei Kopfbällen

Es gibt reichlich Bedarf: Nur sechs der 18 Fußballzweitligisten der Herren beschäftigen momentan Sportpsycholog:innen, wie die Uni Hamburg im Gespräch mit Spreckels erwähnt. Andererseits beschäftigen bekanntermaßen manche Vereine Leute nur um Einwürfe zu trainieren. So viel zum Stellenwert.

Es fehlt ein Bewusstsein für psychologische Aspekte des Sports, vielleicht auch, weil sich diese nicht so genau messen lassen, wie gelaufene Meter oder gespielte Pässe. Aber mal vom Kopfball abgesehen – inwieweit ist Fußball Kopfsache? Bis zu welchem Maße muss ein:e Spieler:in auch stress-resistent und mental robust sein, um auf dem Platz das Leistungsmaximum abrufen zu können? Zur Beantwortung dieser Fragen habe ich wieder mal einen Blick in die wissenschaftliche Fachliteratur geworfen.

Saison und Mängelliste lang

Zustände mentaler Erschöpfung zeigen sich bei allen Fußballer:innen am Ende einer langen Saison. Mentale Erschöpfung in diesem Zusammenhang ist definiert als Überlastung von Geist und Wahrnehmung. Sie äußert sich durch mangelndes Konzentrations- und Koordinationsvermögen beim Fußballspiel.

Letztes Jahr erschien eine Metastudie, die sich damit beschäftigt, inwieweit mentale Erschöpfung die Leistungsfähigkeit von Profisportler:innen beeinflusst. Metastudie heißt in diesem Zusammenhang, dass mehrere unabhängige wissenschaftliche Studien gesichtet und deren Ergebnisse systematisch verglichen und zusammengefasst wurden. Dabei ist es wichtig, dass etwa Arbeiten von der Analyse ausgeschlossen werden, in denen keine Kontrollgruppe existiert. Denn um den Einfluss mentaler Erschöpfung zu messen, wird eine Kontrollgruppe benötigt mit Athlet:innen, die mental frisch, aber in anderweitigen Eigenschaften, wie Alter oder Geschlecht, vergleichbar sind. In dieser frei zugänglichen Arbeit von 2021 wird dann zwischen Offensiv- und Defensiv-Fähigkeiten, sowie Entscheidungssituationen unterschieden:

  • Mehr ungenaue Schüsse und Pässe
    In der Offensive passieren mental erschöpften Spieler:innen mehr Fehler beim Abschluss, und sie spielen weniger erfolgreiche Pässe. Allerdings wirkt sich mentale Erschöpfung nicht auf die Zeit aus, die die Spieler:innen benötigen, um die Schuss- und Passübungen abzuschließen.
  • Etwas ineffektivere Tacklings
    In der Defensive sind die Ergebnisse weniger eindeutig. Mental erschöpfte Spieler:innen haben in einer ausgewerteten Studie eine um 28% (sic!) niedrigere Erfolgsrate beim Tackling als jene aus der Kontrollgruppe, wohingegen eine vergleichbare Arbeit keine Unterschiede nachweisen konnte. Zudem kommen beide Arbeiten übereinstimmend zu dem Schluss, dass sich die mentale Erschöpfung nicht auf die Anzahl der Defensiv-Zweikämpfe auswirkt.
  • Deutlich schlechtere Dribblings
    Enorm war der berichtete Effekt der mentalen Erschöpfung auf Entscheidungssituationen, die in erfolgreichen Dribblingversuchen gemessen wurden. Die Erfolgsquote sank von etwa 75% bei mental frischen Fußballer:innen auf rund 41% bei mental erschöpften Spieler:innen.

Alle angegebenen Werte habe ich in Abbildung 1 dargestellt. Trotz der beträchtlichen Streubreite sind die Trends bemerkenswert. Interessanterweise wurde die mentale Erschöpfung in den analysierten Arbeiten allein durch anerkannte 30- bis 90-minütige Computertests ausgelöst (oder mitunter durch „die Nutzung von Social Media Apps auf dem Smartphone“). Egal auf welche Art und Weise Profis mental erschöpft sind: Sie spielen messbar schlechter Fußball – vor allem in der Offensive – als vergleichbare Individuen, die mental ausgeruht sind. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Vorsorge- und Behandlungsmaßnahmen, welche die mentale Erschöpfung in Drucksituationen vermeiden oder wenigstens vermindern, zu besseren Ergebnissen auf dem Fußballplatz führen könnten. Die zitierte Metastudie liefert übrigens eine mutmaßliche Erklärung für die schlechtere Performance bei mentaler Erschöpfung: Mangelnde Konzentrationsfähigkeit auf den Ball und das Spielgeschehen.

Vergleich der Leistungsfähigkeit zwischen mental erschöpften Spieler:innen mit einer Kontrollgruppe - Teilweise ist eine erhebliche Leistungsminderung bei mental erschöpften Spieler:innen zu erkennen.
Abb. 1 – Vergleich der Leistungsfähigkeit zwischen mental erschöpften Spieler:innen mit einer Kontrollgruppe. Teilweise ist eine erhebliche Leistungsminderung bei mental erschöpften Spieler:innen zu erkennen.

Nicht nur unsere Psyche hat Auswirkungen auf den Fußball. Wie selbst jede:r Freizeitfußballer:in weiß, hat auch der Fußball umgekehrt Auswirkungen auf unsere Psyche. Und auch dieser Aspekt ist wissenschaftlich untersucht – im Profibereich.

FIFA mit Freud’schen Versprechen

Konkret steht bei solchen wissenschaftlichen Untersuchungen die Frage im Vordergrund, ob psychische Gesundheitsprobleme bei Spieler:innen im Profifußball gehäuft auftreten. Die wissenschaftliche Veröffentlichung, die ich mir zu diesem Thema durchgelesen habe, untersucht die Schweizer Top-Ligen bei den Herren, den Frauen und der U21. Aber existiert dafür eine geeignete Kontrollgruppe? Die Allgemeinbevölkerung wird zum Vergleich herangezogen. Es drängt sich die Frage auf, inwieweit ein Fußballteam durch die Allgemeinbevölkerung repräsentiert wird. Ich halte das für keinen geeigneten Vergleich. Denn es könnte sein, dass Leute, die im Fußball erfolgreich sein wollen, andere Persönlichkeitsmerkmale aufweisen müssen als der Durchschnitt, was sich wiederum direkt auf andere psychische Aspekte auswirken würde. In der wissenschaftlichen Arbeit wird jedenfalls festgestellt, dass Angststörungen bei Fußballer:innen in dieser Studie deutlich seltener auftraten als in der Allgemeinbevölkerung.

Bei erwachsenen Profifußballer:innen ist der der Hang zu Depressionen unverändert im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung desselben Alters. In den U21-Teams treten Depressionen hingegen häufiger auf als im Durchschnitt. Das Auftreten von Symptomen einer schweren Depression bei Profifußballer:innen wird neben dem Alter durch das Geschlecht, Spielposition, Gesamtspielzeit und Verletzungshistorie beeinflusst. So sind Fußballerinnen häufiger von Depressionen oder Angststörungen betroffen als Fußballer, und Profis im Angriff häufiger als in der Verteidigung.

Kritisch muss ich nochmals den Aspekt der Vergleichbarkeit erwähnen. Zwar stammen alle Daten aus der Schweiz, dennoch ist die Kohorte möglicherweise sehr heterogen. Das bedeutet, dass die Individuen, die an dieser Studie teilgenommen haben, sehr unterschiedlich sind, weil etwa einige Teams mehr Spieler:innen aus bestimmten Regionen haben, oder sehr aggressive Teams mit sehr vorsichtig agierenden verglichen werden könnten.
Kritisch muss zusätzlich erwähnt werden, dass die Arbeit selbst von der FIFA finanziert wurde und beide Autor:innen jeweils auch am FIFA Medical Assessment and Research Centre angestellt sind. Prinzipiell ist das legitim, es könnte jedoch schnell zu einem Interessenkonflikt kommen, wenn die Ergebnisse (der Forschenden) den Erwartungen (der Arbeitgeber:innen und Financiers) widersprechen. Die Hauptschlussfolgerung der Arbeit lautet, dass es nur in der Schweizer U21-Fußball-Liga einen höheren Hang zu Depressionen gäbe, als im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, nicht jedoch im Erwachsenen-Bereich.

Volle Mentalkraft voraus

Die Nachwuchsleistungszentren der Bundesligisten sind verpflichtet, mindestens ein:e Expert:in aus der Sportpsychologie zu beschäftigen. Im Erwachsenen-Bereich gibt es solche Verpflichtungen nicht. Der FC St. Pauli beschäftigt für seine Profimannschaft mit Christian Spreckels einen Sportpsychologen. In Being Timo Schultz Episode 2 ist zu hören, wie wichtig das Thema im Trainer-Team des FC St. Pauli genommen wird. Das ist gut so, denn wir haben gelernt, dass mental erholte Spieler:innen messbar besser Fußball spielen können. Außerdem scheinen zumindest erwachsene Profifußballer:innen (aus der Schweiz) nicht vermehrt zu Depressionen zu neigen. Also bleiben wir am Ball und optimistisch.

Forza!
// Lorenz

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