Dysbalancen beim FC St. Pauli

Dysbalancen beim FC St. Pauli

Vor dem letzten Spiel des Jahres ist die Stimmung beim FC St. Pauli am Boden. Zu wenig Punkte holte das Team in 2022 und hat weiterhin nicht die offensive Durchschlagskraft und das Gleichgewicht zwischen offensiver Power und defensiver Stabilität gefunden.
(Titelbild: Peter Böhmer)

Stadtmeisterschaften sind besondere Spiele. Denn alle wissen, dass sie zu Höchstleistungen motivieren, die andernfalls nicht möglich erscheinen. Diese Spiele haben ihre eigenen Gesetze. Meist ist das, was davor oder danach passiert, nicht mit der Leistung während eines solchen Spiels in Verbindung zu bringen. In der Geschichte der Hamburger Stadtmeisterschaft wird daher gerne von einem „Derbyfluch“ gesprochen. Denn nicht immer, aber eben schon mehrere Male bedeutete ein Sieg im Derby auch, dass es danach einen Niedergang gab.

Derbyfluch?

So gesehen scheint der FC St. Pauli nach dem 3:0 zuhause gegen den HSV mit einem „Derbyfluch“ belegt worden zu sein. Seitdem hat das Team nicht mehr gewinnen können und ist in der Tabelle in die Abstiegsregion abgerutscht. Doch auch wenn sich viele Fans und Spieler gerne in Aberglauben suhlen, so kann der „Derbyfluch“ nicht für das herhalten, was der FCSP aktuell zeigt.

Wohl aber kann das Derby als eine große Ausnahme bezeichnet werden. Mit 3:0 gewann das Team gegen den HSV. Nimmt man diese Tore aber aus der Wertung, so hat der FC St. Pauli seit dem neunten Spieltag, also in den letzten sieben Spielen nur zwei Tore erzielt. Dass dabei drei Punkte heraussprangen, ist aller Ehren wert. Und trotzdem sind zwei Tore in sieben Spielen die Bilanz eines Absteigers.

Für diese schwachen Offensivleistungen müssen Gründe gesucht werden. Wobei die fehlende Abschlussqualität bereits als ein großes Problem identifiziert wurde. Nicht erst seit dem Kiel-Spiel, eigentlich war das schon kurz nach Saisonbeginn klar. Aber die individuelle Leistungen einzelner Spieler schien zuletzt sogar nochmal abgenommen zu haben im Vergleich zum Saisonbeginn. Doch reicht das, um diese Harmlosigkeit in der Offensive zu erklären?

Hamburg, Deutschland, 08.11.2022 - Lukas Daschner (FC St. Pauli) im Duell mit Lewis Holtby (Holstein Kiel) - Copyright: Peter Boehmer
Lukas Daschner ist der einzige Angreifer, dem in letzter Zeit ein Treffer gelang
(c) Peter Boehmer

Führt Umstellung zu weniger Offensivpower?

Viel dürfte auch damit zusammenhängen, dass der FC St. Pauli seit dem Derby mit einer neuen Formation unterwegs ist. Das 5-3-2 hat dem Team eine defensive Stabilität gebracht, die ihnen vorher zu fehlen schien. Nur vier Gegentore gab es in den fünf Spielen mit dieser Formation. In den elf Spielen zuvor waren es 17 Gegentreffer. Doch der Preis für die defensive Stabilität könnte ein hoher gewesen sein. Timo Schultz erklärt die Frage nach dem Effekt der Formation auf die Offensive wie folgt:

„Es hat immer alles seine Vor- und Nachteile. Es ist schon eine gewisse Logik dabei, dass wenn man einen Spieler mehr hinten reinstellt dann auch vorne jemand als potenzieller Abnehmer oder Kreativspieler fehlt. Wir haben uns ganz bewusst für den Schritt entschieden und können das auch umdrehen: Wir haben seit der Umstellung noch weniger Schüsse zugelassen und deutlich weniger Gegentore gefangen.“

Timo Schultz über den Effekt der Umstellung auf ein 5-3-2 auf die eigene Offensive

Hinweis: Das mit den weniger zugelassenen Torschüssen stimmt nicht ganz – Der FC St. Pauli hat gegen Darmstadt (13) und Kiel (17) die meisten gegnerischen Torschüsse der gesamten Saison zugelassen (F95 waren es 12, also auch recht viele). Aber die xG-Werte sind mit dem 5-3-2 gesunken: Von 1.2 auf 0.9 pro Spiel.

Klar ist: Der FC St. Pauli hat auch in den letzten Spielen genügend Torchancen bekommen, um die zwei erzielten Tore aus sieben Spielen als furchtbar wenig zu bezeichnen. Und bevor das hier jetzt falsch verstanden wird: Die wenigen eigenen Tore sind vordergründig eine Frage der Abschlussqualität. Nun, kurz vor Ende der Hinrunde, ist das Thema eines fehlenden Torjägers größer und präsenter denn je. Kein Team in der 2. Liga weist einen größeren Unterschied zwischen erzielten Toren und xG-Werten auf als der FC St. Pauli (Tore: 19; xG: 24.6)

Aber es gibt auch einen Effekt der Formation, der da sicher mit reinspielen könnte und der zum Beispiel in den xG-Werten meist nicht berücksichtigt wird. Der FC St. Pauli hat in seinem 5-3-2 12.5% seiner Ballgewinne im gegnerischen letzten Drittel gehabt (57 insgesamt). Mit einer Viererkette waren es noch 18.2% im gegnerischen letzten Drittel (189 insgesamt). Diese Zahlen decken sich mit dem PPDA-Wert (erlaubte Pässe pro Defensivaktion): Mit dem 5-3-2 liegt dieser bei 10.2, vorher lag er bei 7.9 und damit sehr niedrig. Der FC St. Pauli ist also im Pressing passiver geworden.

Hamburg, Deutschland, 08.11.2022 - David Otto und Johannes Eggestein (FC St. Pauli) konnten beim Spiel gegen Holstein Kiel nicht überzeugen - Copyright: Peter Boehmer
Gegen Holstein Kiel starteten David Otto und Johannes Eggestein im Angriff – Ein Tor gelang nicht
(c) Peter Boehmer

Schwächen der xG-Modelle

Nun haben diese Zahlen aber augenscheinlich keinen Einfluss auf die xG-Werte, welche sich im Falle des FCSP nicht nach Formationen unterscheiden. Das ist aber oft ein Problem der Modelle, mit denen xG-Werte berechnet werden. Denn es ist ein wichtiger Unterschied für die Chancenqualität, ob sich ein Team in einem Umschaltmoment befindet oder bereits gut sortiert steht (ausführlich beschrieben ist das hier und sogar noch besser hier).

Dieser Unterschied wird aber in nicht allen Modellen berücksichtigt. Besonders jene, die öffentlich zugänglich sind, verwenden häufig ein eher basales Modell zur Berechnung der xG-Werte (was nicht bedeutet, dass diese Werte Müll sind, aber es gibt eben Qualitätsunterschiede). So kann es auch sein, dass die Chancenqualität des FC St. Pauli schon abgenommen hat, es in den xG-Werten aber nicht ersichtlich ist.

Wie bereits geschrieben, ist die nachlassende Torgefahr aufgrund der Formation ein eher untergeordneter Punkt auf der Liste an Problemen. Ignorieren sollte man ihn aber trotzdem nicht. Die Tatsache, dass die xG-Werte und die Anzahl an Torschüssen nicht weniger geworden sind, zeigt, dass der FCSP auch mit dieser Formation noch oft in Abschlussposition kommt und der „Formations-Effekt“ nicht so groß ist. Das bedeutet aber nicht, dass er nicht vorhanden ist.
Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es um die Bewertung der Systemumstellung geht. Grundsätzlich ist das 5-3-2 eher eine passivere Variante und es hat wohl einen Effekt auf die Chancenqualität. Aber dieser wird beim FCSP höchstwahrscheinlich durch die höhere defensive Stabilität aufgewogen.

Die Suche nach der goldenen Mitte

Nachdem der FCSP zu Saisonbeginn zwar zuverlässig das Tor traf, aber ebenso zuverlässig Gegentore fing, scheint es nun mit Einführung des 5-3-2 genau umgekehrt zu sein. Die durch die Umstellung erlangte defensive Stabilität führte dazu, dass das Team weniger Gegentore fängt, aber eben wohl auch weniger Tore erzielt. Das liegt allerdings nicht nur an der Formation, sondern primär an der Abschlussqualität der Spieler.
Der FC St. Pauli scheint also weiterhin nicht den Mittelweg gefunden zu haben zwischen offensiver Power und defensiver Stabilität. Und genau hier, bei der Abschlussqualität und dem Finden der goldenen Mitte, muss die Arbeit in der Winterpause angesetzt werden.

// Tim

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One thought on “Dysbalancen beim FC St. Pauli

  1. Danke für diese Bewertungen. Was mensch nicht vergessen darf ist auch, dass wir doch einige der Tore der ersten Saisonhälfte nach Standards erzielt haben. Das funktioniert derzeit auch nicht mehr und die gleichen Leute, die da damals gut getroffen haben (Irvine z.B.) treffen jetzt auch in den aussichtsreichsten Positionen nicht mehr.

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