Feine große Unterschiede

Feine große Unterschiede

Der FC St. Pauli zeigte zwei bemerkenswert unterschiedliche Hälften der Saison 22/23 – wie deutlich und in welchen Bereichen sie sich unterscheiden, zeigen die Statistiken.
(Titelbild: Stefan Groenveld)

Ja, late to the party, ich weiß. Viel zu tun und so. Würde das gerne tiefgründiger analysieren, aber muss leider Abstriche machen. Doch die Saison 22/23 des FC St. Pauli möchte ich noch nicht ganz in das Reich der Chroniken verabschieden, sondern viel lieber noch einmal schauen, was genau eigentlich den großen Unterschied zwischen der Hin- und Rückrunde ausmachte und wie sich das anhand von Statistiken ablesen lässt.

Pizza-Grafiken des FC St. Pauli
links: Hinrunde 22/23
rechts: gesamte Saison 22/23

Aus den beiden Pizza-Grafiken wird deutlich, dass es dann doch schon ein paar signifikante Unterschiede zwischen Hin- und Rückrunde beim FC St. Pauli gibt. Anfangen wollen wir aber erstmal mit einer wichtigen Erkenntnis: Der FCSP stellt die beste Defensive der Liga der Saison 22/23, gemessen an der Anzahl an gegnerischen Torschüssen und xG-Werten. Dort ist das Team sowohl in der Hin- als auch der Rückrunde jeweils Ligaprimus.

Die beste Defensive der Liga

Und genau hier finden wir dann auch einen der Gründe, warum der Vorsprung auf die Plätze ganz unten in der Liga nach der Hinrunde nur einen Punkt betrug: Der FCSP fing sich zu viele Gegentore, obwohl man bei der Anzahl an gegnerischen Abschlüssen und den xG-Werten bereits vorne lag. Warum das in der zweiten Saisonhälfte besser lief, dürfte vielerlei Gründe haben: Wichtige Transfers, fitte Spieler, ein wiedererstarkter Torwart, Entwicklungsschritte bei einzelnen Spielern und nicht zuletzt ein neuer Trainer mit einer anderen Philosophie und Formation.

Die Unterschiede in der Spielidee lassen sich ebenfalls ganz gut in den Statistiken ablesen. Der PPDA-Wert, also ein Maß, wie hoch und früh ein Team ins Pressing einsteigt, ist massiv gestiegen in der Rückrunde. Hatte der FCSP nach den ersten 17 Partien noch den drittniedrigsten Wert, ist es nach der gesamten Saison noch der achtniedrigste. Das dürfte sicher auch daran liegen, dass der FCSP häufiger in Führung lag und in einen „Verwaltungsmodus“ schaltete.

Aber genau das ist ja auch eines der Merkmale von Fabian Hürzeler gewesen und eine der Entwicklungen die das Team durchlief: Zu Beginn der Rückrunde hatte nicht nur ich noch Schnappatmung, wenn der FCSP den Gegner mal etwas spielen gelassen hatte und erst tief in der eigenen Hälfte erwartete. Aber mit der Zeit wurde klar: Eine Führung verwalten kann der FC St. Pauli. Doch es war nicht nur der Verwaltungsmodus. Der FC St. Pauli agiert unter Hürzeler anders im Pressing, mit einer Art kompakten Fünferblock, der vor allem im Zentrum die Räume für den Gegner enorm verknappte und ihn so kaum zur Entfaltung kommen ließ, wie diese Analyse sehr schön bebildert aufzeigt.

Hamburg, Deutschland, 05.02.2023 - Cheftrainer Fabian Hürzeler gibt Anweisungen beim Spiel des FC St. Pauli gegen Hannover 96 - Copyright: Peter Boehmer
Über die Philosophie und Spielideen von Fabian Hürzeler dürfte noch der ein oder andere Artikel geschrieben werden.
(c) Peter Boehmer

Überragend in den direkten Duellen

Noch etwas ist auffällig beim Blick auf die Statistiken, vor allem wenn man bedenkt, dass genau dies eines der großen Probleme des FCSP vor gar nicht allzu langer gewesen ist: Kein Team hat eine bessere Zweikampfquote. Und nach der Winterpause gab es auch in der Luft eine klare Verbesserung: Das Team verbesserte sich bei den erfolgreichen Kopfballduellen von Platz elf auf Platz sechs, war auf die Rückrunde bezogen das zweitbeste Team in der Luft. Jackson Irvine ist übrigens ligaweit der beste Mittelfeldspieler in Sachen Kopfballduelle, gewann fast zwei Drittel. Ein Grund für den Sprung in der zweiten Saisonhälfte ist sicher Karol Mets, der mit knapp 62% erfolgreicher Luftduelle auf Platz 15 in der Liga liegt.

Noch etwas hat sich recht stark verändert beim FC St. Pauli: Mit Dapo Afolayan und Elias Saad verfügt das Team über zwei sehr dribbelstarke Spieler. Nach der Hinrunde stand man auf Platz 15 bei der Anzahl an Dribblings, konnte quasi kaum etwas in der Offensive über diese direkten Duelle lösen. In der Gesamtabrechnung steht nun Platz zwölf. Saad (6.5 Dribblings pro Spiel, Platz 8) und Afolayan (7.4, Platz 3) haben das Team da ziemlich weit nach vorne gepusht und stehen so auch sinnbildlich für eine veränderte Offensividee des Teams.

Offensiv nachgelassen?

Insgesamt hat die offensive Präsenz des FC St. Pauli in der Rückrunde aber nachgelassen. Die Anzahl an „deep completions“, Pässen ins letzte Drittel und Ballkontakten im Sechzehner hat deutlich abgenommen. Interessant ist aber, dass dies viel eher ein Effekt der veränderten Philosophie bzw. der Spielsituationen gewesen sein dürfte. Denn im Verwaltungsmodus, den man aufgrund häufiger Führungen oft einschaltete, lässt die Anzahl an Offensivaktionen eben etwas nach. Interessant: Auch die Anzahl der gegnerischen Offensiv-Statistiken nahm ab in der Rückrunde. Und schaut man sich nur die Werte aus den ersten 45 Minuten an, dann gab es da keine Veränderung. Es ist sogar eher andersherum, denn der FCSP schoss in der Rückrunde in den ersten 45 Minuten etwas häufiger auf das gegnerische Tor als noch in der Hinrunde.

Hamburg, Deutschland, 11.03.2023 - Oladapo Afolayan (FC St. Pauli) feiert seinen Treffer zum 2:1 gegen die SpVgg Greuther Fuerth - Copyright: Peter Boehmer
Gar nicht auszumalen, zu was Dapo Afolayan noch fähig sein kann, wenn er erstmal eine gesamte Vorbereitung mit dem FC St. Pauli absolviert.
(c) Peter Boehmer

Wer 1:0 führt…

Äußerst spannend finde ich eine Statistik, die nicht in der Pizza-Grafik abgebildet ist. In der Hinrunde konnte der FC St. Pauli nach Rückstand noch fünf Punkte holen, jeweils per Unentschieden. Das Team verlor aber insgesamt elf Punkte nach eigener Führung.
In der Rückrunde sieht es ganz anders aus: Zehn Punkte konnte das Team noch holen trotz Rückstands (drei Siege, ein Unentschieden). Wenn der FCSP aber in Führung ging, dann gab man diese auch nicht mehr her, konnte alle diese Spiele gewinnen – absolut beeindruckend. Moment, das ist falsch! Gegen den HSV führte der FCSP, zur Halbzeit stand es schon 1:1. Aber das Spiel habe ich aus Eigenschutzgründen aus meinem Gedächtnis gelöscht. Und selbst mit diesem einen Spiel ist die Statistik weiterhin beeindruckend.

Beeindruckend sind auch die Leistungen einzelner Spieler gewesen in der Rückrunde. Ein paar habe ich schon etwas hervorgehoben. Wenn ich es schaffe, dann werfe ich in einem anderen Artikel diese Woche den Blick auch noch einmal genauer auf die einzelnen Spieler. Das macht nämlich Spaß, weil man da auch so schöne Entwicklungen erkennen kann.

Beim FC St. Pauli gab es also teils sehr feine, teils recht deutliche Unterschiede zwischen den beiden Saisonhälften. Und damit setzte das Team einen Trend fort, der bereits seit Jahren anhält: Das Team zeigte konstante Leistungen über das Kalender-, nicht über das Spieljahr. Für 2023 wäre es schön, wenn das erstmal so bleibt. Für 2024 darf sich das dann aber gerne massiv ändern.

// Tim

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9 thoughts on “Feine große Unterschiede

  1. Öhm, gegen den… ääh… gegen die… naja, gegen diese andere AG da haben wir nach Führung schon auch irgendwie nicht gewonnen.

  2. Hey, ich wollte mich nochmal für die gute Arbeit bedanken.
    Der Sportjournalismus ist in Deutschland einfach so platt. Selbst bei etablierten großen wie dem Kicker sind die Artikel meist oberflächlich und ohne Kritischen Blick. 11 Freunde hat ab und zu einige interessante Artikel aber von Blöd, MOPO und co. muss man gar nicht erst anfangen. Ihr stellt hier echt eine Ausnahme da.

    Um so mehr freue ich mich über fast jeden Artikel von euch.

    Lg

    1. Ich schließe mich an und möchte besonders die Einzelkritiken nach den Spielen hervorheben. Ich habe mehrfach den Fehler gemacht, auf die entsprechenden Links beim Abendblatt zu klicken und war jedesmal fassungslos angesichts der krampfhaft originellen, aber komplett unlustigen „Beurteilungen“. Schön, dass es beim Millerntor Gehalt- und Niveauvolleres zu lesen gibt.

      Eine Frage zu den Pizzagrafiken: Wäre es nicht noch aussagekräftiger, die Spieltage 1-17 mit den Spieltagen 18-34 zu vergleichen (statt mit 1-34)?

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