Joost van der Leij arbeitet als Daten-Scout für eine Reihe von Fußballclubs. Für den MillernTon wirft er einen Blick auf den FC St. Pauli.
(Titelbild: Peter Böhmer)
Wenn man sich intensiv mit einer Sache befasst, dann wird man ja gerne mal betriebsblind. So geht es mir manchmal mit dem FC St. Pauli. Dann hängt man in seinen vorgefertigten Urteilen fest und es lässt sich nur sehr schwer und nur in geringem Maße daran rütteln. Umso wichtiger ist, wenn dann jemand von außen einen Blick auf die Dinge wirft.
Philosoph der Statistik
So geschehen mit Joost van der Leij, der für den MillernTon den Kader des FC St. Pauli in den nächsten Wochen etwas genauer unter die Lupe nehmen wird. van der Leij ist studierter Pilosoph mit einem Fokus auf Statistik. Ja, richtig, Philosophie der Statistik. Das mag etwas schräg klingen, aber wenn wir mal über unseren Umgang mit Statistiken nachdenken, dann fällt vielleicht auf, dass dieser auf einigen Annahmen beruht, dessen Grenzen gesteckt werden müssen. Hierfür braucht es unter anderem auch die Philosophie.
Joost van der Leij hat einige statistische Modelle entwickelt, um Einblicke in die Leistungsfähigkeiten von Spielern zu bekommen. Vor allem, um zu sehen, wie gut Spieler zu Clubs passen bzw. wo ihre Stärken und Schwächen liegen im Vergleich zu ihren Gegenspielern auf dem Platz. Er arbeitet als Daten-Scout für eine Reihe von Clubs in Europa und den USA, aktuell zum Beispiel relativ viel mit dem FC Twente Enschede. Ich habe mit ihm über den FCSP gesprochen.
Hi Joost, welcher Spieler des FC St. Pauli trägt am meisten zur Verbesserung des Teams bei?
Joost van der Leij: Das ist Eric Smith.
Wieso ist das so?
JvdL: Die von mir entwickelten Football Behavior Management (FBM)-Statistiken berechnen die Wahrscheinlichkeit, wie sehr ein Spieler auf vier verschiedene Arten zum Team beiträgt, wie in den folgenden Statistiken zu sehen ist:
Eric Smith | |
Gesamt | 99 |
Finishing | 73 |
Defense | 97 |
Passspiel | 70 |
FBM-Spieler-Score | 8.475 |
Auf der Grundlage dieser vier Statistiken wird ein FBM-Spieler-Score berechnet. Jede Zahl über acht bedeutet Superstar-Niveau (aber Achtung: Auf dem Niveau der Liga und des Vereins). Eric Smith hat einen FBM-Spieler-Score von knapp 8.5, was ihn zu einem Superstar in der 2. Bundesliga und einem Superstar beim FC St. Pauli macht.
Joost, wir blicken hier auf sogenannte FBM-Grafiken – Kannst Du erklären, was wir da sehen und wie wir sie interpretieren können?
JvdL: Als Basis-Daten dienen die wyscout-Statistiken. Die FBM-Diagramme sind Verteilungen der oben genannten Wahrscheinlichkeiten. Eine so genannte Punktwahrscheinlichkeit, die aus einer einzigen Zahl besteht, suggeriert ein unrealistisches Maß an Genauigkeit. In Wirklichkeit handelt es sich eher um eine Fläche als um einen Punkt. FBM-Statistiken und FBM-Grafiken sind prädiktiv. Das heißt, sie sehen die Zukunft voraus. Im Fall von Smith ist es also sehr wahrscheinlich, dass er positiv zur Verteidigung des St. Pauli beitragen kann. Gleichzeitig ist es auch wahrscheinlich (aber nicht extrem wahrscheinlich), dass er positiv zum Abschluss und zur Passwahrscheinlichkeit von St. Pauli beitragen wird.
Es gibt eine einfache Regel, um diese Grafiken richtig zu lesen: Je weiter rechts die Peaks sind, umso höher ist der Beitrag der Spieler zu den unterschiedlichen Bereichen. Die Höhe der Peaks ist dabei unwichtig, sie sollten weitgehend ignoriert werden. Wichtig: Die Wahrscheinlichkeiten sind kontext-abhängig, von der Liga und dem Club. Wenn ein Spieler für einen anderen Club und/oder einer anderen Liga spielt, dann verändert sich auch seine FBM-Grafik. Meist sind diese Veränderungen klein, aber in Ausnahmefällen können diese auch sehr groß sein.
Neben den Statistiken für Torabschluss, Passspiel und Verteidigung berechnest Du auch eine Kreativitätsstatistik – wie kann man Kreativität messen?
JvdL: Die FBM definiert Kreativität als das, was man nicht sehen und nicht messen kann, was aber einen Spieler für viele Menschen wertvoller macht. Sie ist also im Prinzip nicht messbar. Dennoch haben wir einen Algorithmus entwickelt, der die Kreativität für etwa die Hälfte aller Spieler berechnet. Leider gehört Smith zu der Hälfte, für die wir seine Kreativität nicht berechnen können. Das bedeutet nicht, dass er nicht kreativ ist. Es bedeutet nur, dass wir sie nicht berechnen können. Ich weiß, das ist etwas kompliziert. Ganz ausführlich habe ich das hier beschrieben.
„Es gibt eine einfache Regel, um diese Grafiken richtig zu lesen: Je weiter rechts die Peaks sind, umso höher ist der Beitrag der Spieler zu den unterschiedlichen Bereichen.“
Du nennst bei Neuzugängen auch immer einen „replacement value“. Was ist das für ein Wert?
JvdL: Der Wiederbeschaffungswert gibt an, wie viel ein Verein voraussichtlich für den nächsten Spieler ausgeben muss, falls ein bestimmter Spieler den Verein verlässt, um das Level zu halten. Der Wiederbeschaffungswert sagt keine künftigen Ablösesummen voraus, obwohl er bei der Vorhersage von Ablösesummen besser abschneidet als transfermarkt.de. Um es klar zu sagen: FBM ist weniger schlecht als transfermarkt.de, aber immer noch nicht gut.
Aber der Wiederbeschaffungswert sagt ziemlich genau voraus, wie viel ein Verein für den nächsten Spieler ausgeben wird, wenn er Spieler A durch einen Spieler B ersetzt, der dem Spieler A sowohl von der Statistik als auch sonst sehr ähnlich ist. Eine vollständige Liste der Faktoren, die in den Ersatzwert einfließen, findest Du hier.
Der Wiederbeschaffungswert für Eric Smith beträgt drei Millionen Euro. Das bedeutet, dass Smith derzeit ziemlich unterbewertet ist und daher ein sehr attraktives Ziel für andere Vereine darstellt, da er (a) ein Superstar der 2. Bundesliga und (b) unterbewertet ist. Das bedeutet auch, dass der FC St. Pauli, wenn er einen neuen Spieler verpflichten will, der so gut ist wie Smith, mit Ausgaben in Höhe von drei Millionen Euro rechnen sollte.
„Wiederbeschaffungswert für Eric Smith? Drei Millionen Euro“
Der Wiederbeschaffungswert ist ein hervorragendes Instrument für Vereine, um zu berechnen, für wie viel sie Spieler verkaufen oder kaufen sollten. In einer Win-Win-Situation erhält der verkaufende Verein eine höhere Ablösesumme als den Wiederbeschaffungswert, während der kaufende Verein eine niedrigere Ablösesumme als den jeweiligen Wiederbeschaffungswert zahlt. Im Fall von St. Pauli sollte der Verein also mindestens drei Mio. Euro erhalten, wenn er Smith gehen lassen würde.
Die FBM-Tabellen sagen uns also, ob ein neuer Spieler, der zu einem Verein kommt, den Verein verbessert – wie ist es beim FC St. Pauli in diesem Sommer. Hat sich die Verteidigung verbessert?
JvdL: FBM-Diagramme machen es sehr einfach, zwei Spieler zu vergleichen. Wie du sehen kannst, ist es bei Karol Mets ungefähr genauso wahrscheinlich, dass er zur Verteidigung von St. Pauli beiträgt wie Jakov Medic. Der große Unterschied ist, dass Medic auch ein wenig zum Abschluss von St. Pauli beigetragen hat. Das wird St. Pauli vermissen. Mets wird wohl eher zum Passspiel von St. Pauli beitragen. Der Aufbau von hinten heraus wird also mit Mets eher gelingen.
Verstehe ich das richtig: Karol Mets ist besser im Passspiel als Hauke Wahl?
JvdL: Nein, das Modell sagt nicht, dass Mets besser im Passspiel ist. Es sagt, dass Mets eher zum Passspiel des FC St. Pauli beitragen wird. Basierend auf den wyscout-Daten hat Mets eine positivere Bilanz zwischen erfolgreichen Pässen und Ballverlusten im Vergleich zu Wahl. Da rechne ich natürlich auch die Qualität der Pässe mit ein.
Und wie sieht es mit der Offensive aus. Gibt es dort eine Verbesserung mit Albers, Sinani und Banks?
JvdL: Wenn man Andreas Albers mit Lukas Daschner vergleicht, kann man sofort sehen, dass Daschner viel eher zum Abschluss von St. Pauli beiträgt als Albers. Albers wird auch weniger zum Passspiel von St. Pauli beitragen. Er wird eher zum Verteidigen von St. Pauli beitragen, aber das ist kein Ausgleich, wenn man bedenkt, dass er ein Stürmer ist.
Anm.: Lukas Daschner hat laut Joost übrigens einen Wiederbeschaffungswert von 5,5 Mio Euro, wenn er als Stürmer eingesetzt wird und 2,7 Mio Euro, wenn er als offensiver Mittelfeldspieler eingesetzt wird (Twitter)
Basierend auf diesen Modellen: Was würdest Du dem FC St. Pauli diesen Sommer empfehlen?
JvdL: Ohne auf jeden einzelnen Spieler eingegangen zu sein, kann man bei den Spielern, die in letzter Zeit gespielt haben, sofort die aktuellen Schwächen von St. Pauli erkennen und das wird niemanden verwundern: Die Defensive sieht gut aus, das Passspiel ist ok, aber das Finishing besonders von den offensiven Außen und Stürmern sieht schwach aus. Es ist einfach: Ich würde Stürmer und offensive Außenspieler verpflichten.
Vielen Dank für den Einblick, Joost!
Es ist immer wieder spannend den Blick ganz fokussiert auf die Statistiken zu legen, im besten Fall ohne, dass die Person, die die Statistiken erstellt die Spieler kennt. Das sorgt für mehr Objektivität. In diesem Fall passen die Zahlen sicher an der ein oder anderen Stelle nicht unbedingt mit dem subjektiven Eindruck zusammen. Im Großen und Ganzen dürfte das aber sicher übereinkommen.
Einen kompletten Satz FBM-Grafiken zu den Neuzugängen, sowie jene von „Superstar“ Eric Smith und Jackson Irvine findet ihr bei Twitter. Wir werden zusammen mit Joost noch den Blick auf ein Spiel legen und da insbesondere die Stärken und Schwächen der jeweiligen Gegenspieler vergleichen und dann, wenn das Transferfenster geschlossen hat, den gesamten Kader auch im Ligavergleich betrachten.
// Tim
Alle Beiträge beim MillernTon sind gratis. Wir freuen uns aber sehr, wenn Du uns unterstützt.
MillernTon auf BlueSky // Mastodon // Facebook // Instagram // Threads // WhatsApp // YouTube
It’s a pity that the link provided to give more insight on how is defined and calculated creativity (https://footballbehaviormanagement.com/2022/05/24/the-fbm-creativity-stat/) just states that it can’t go into details and nothing more .
Yes, it would be very interesting. However, I think the input data might be something like his USP, so he donesn’t want to tell us more
Lieber Tim,
danke für diesen spannenden Einblick in die Daten von Joost. Cool auch zu lesen, dass Du noch weitere Artikel planst.
Etwas stutzen bzw schlucken musste ich dann bei seinem Fazit: Ich würde Stürmer und offensive Außenspieler verpflichten.
Stürmer klar – aber offensive Außen haben wir ja im letzten halben Jahr gleich 4 (ich zähl mal Sinani mit dazu) verpflichtet. Wäre schon interessant wie er die 4 einschätzen würde.
beste Grüße
Ja, das stimmt. Im Interview spricht er ja die fehlende Torgefahr an. Ein tieferer Einblick in den gesamten Kader ist aber auch noch geplant. Da werden wir das sicher wieder zum Thema machen.
Mich würde mal interessieren, wie hoch der Wiederbeschaffungswert bei Kofi gewesen wäre, wenn der von Daschi schon abstrus hoch ist. Ich sehe ihn als nicht torgefährlicher an als Dzwigalla…;-)