Ligaspitze – in (fast) allen Belangen

Ligaspitze – in (fast) allen Belangen

Wenig Risiko, viel Gelb, noch mehr Gold: Die Statistiken des FC St. Pauli zeichnen das Bild eines Spitzenteams, welches hochverdient von der Tabellenspitze grüßt.
(Titelbild: Peter Böhmer)

Der FC St. Pauli zeigte beim Spiel gegen Hertha BSC, dass er aktuell völlig zu Recht ganz oben in der Tabelle steht. Die Berliner, die zuvor mit einer aufbrausenden Offensive glänzen konnten, fanden nahezu nie ein Mittel, um die Defensive des FCSP zu knacken. Es ist fast schon Normalität geworden, dass die jeweiligen Gegner nach dem Spiel ganz offen zugeben, dass sie an diesem Tag keine Chance gegen den FCSP hatten. Auch Hertha-Trainer Pal Dardai tat das („Seien wir ehrlich: St. Pauli war zu viel für uns.“) und wir sollten nicht vergessen, wie krass das alles ist: Dass gegnerische Trainer reihenweise den Hut ziehen, trotz des Wissens um die taktischen Elemente im Spiel des FC St. Pauli. Niemand hat diese Spielweise bisher in den Griff bekommen.

Das „Risiko“ des konsequent flachen Aufbauspiels

So war es auch in Berlin lange Zeit eine äußerst einseitige Angelegenheit. Der FCSP beherrschte die Hertha auf allen Ebenen, gewann zielsicher die Bälle und wurde offensiv immer wieder brandgefährlich. Nachdem das hochverdiente 2:0 erzielt wurde und bereits alles auf einen ungefährdeten Auswärtssieg hindeutete, schenkte sich das Team von Fabian Hürzeler aber mehr oder weniger selbst ein Gegentor ein – und sorgte so ungewollt für eine ziemlich spannende Schlussphase eines bis dahin sehr einseitigen Fußballspiels.

Der Anschlusstreffer der Berliner resultierte aus einem Ballverlust des FC St. Pauli im Spielaufbau. Jackson Irvine gelang es nicht, einen Pass von Nikola Vasilj zu kontrollieren – Sekunden später schoss Danny Scherhant den Ball unhaltbar ins FCSP-Tor. Diese Situation hatten viele kommen sehen. Nicht, weil der FC St. Pauli in diesem Spiel mit Fehlpässen auffällig wurde. Vielmehr, weil das Team auch dann noch flach aufbaut, wenn der Gegner hoch presst. Und da Ballverluste im eigenen Drittel ziemlich ungüstig sind, stellt sich direkt die Frage: Ist es notwendig, im eigenen Drittel flache Pässe zu spielen, wenn der Gegner zeitgleich versucht, dort die Räume zu verknappen? Die kurze Antwort lautet: „Ja“. Der Blick in die aktuellen Zahlen liefert eine lange Antwort. Und die lautet nicht „Ja“, sondern: „Welches Risiko?“

Fabian Hürzeler hat eine ziemlich klare Idee davon, wie er mit seinem Team zum Torerfolg kommen und ein Spiel kontrollieren möchte. Er fordert von seinen Spielern genau jenen flachen Aufbau, der gegen Hertha einmal schiefgegangen ist. Und auch wenn es nun ein Gegentor aufgrund dieses Aufbauspiels gab, so ist aus seiner Sicht das Risiko trotzdem nicht vorhanden, wie er nach dem Schalke-Spiel erklärte: „Für die Jungs ist es kein Risiko, weil sie es hundertmal die Woche machen“ und ergänzte „Ich glaube, dass der Mehrwert vom flach Herausspielen viel höher ist, als einen langen Ball zu spielen, weil es immer ein Zufallsprodukt ist, wo der zweite Ball hingeht.“

Wenige Ballverluste im eigenen Drittel

Auch wenn sich der FC St. Pauli nun einen Gegentreffer fing, der klar mit dem Aufbauspiel zusammenhängt, so zeigen die Zahlen ganz eindeutig, dass Hürzeler kein Risiko mit dieser Spielidee eingeht. Nur knapp 17 Prozent seiner Ballverluste hat der FCSP im eigenen Drittel – das ist ein Spitzenwert. Nur der FC Schalke 04 und die SpVgg Fürth haben eine geringere Quote. Bei Schalke, das konnte man bei ihrem letzten Auftritt am Millerntor erkennen, ist der lange Ball so ziemlich das einzige Mittel, um überhaupt nach vorne zu kommen. Platz 16 ist der verdiente Lohn dafür.

Die Zahlen geben dem FC St. Pauli also Recht: Das Team verliert ziemlich wenige Bälle – die wenigsten der Liga – und diese dann auch noch zu einem sehr geringen Prozentsatz im eigenen Drittel. Und so ist es dann auch kaum verwunderlich, dass Fabian Hürzeler nach dem Schalke-Spiel erklärte, dass er das Risiko des flachen Aufbaus als sehr gering einschätzt und von seinem Team verlangt, dass es noch viel mutiger aufbauen solle (= noch weniger lange Bälle spielen; der FCSP spielt bereits die wenigsten der Liga).
Warum er den flachen Aufbau noch weiter intensivieren möchte, zeigen die weiteren Zahlen zum Offensivspiel des FC St. Pauli:

Offensiv-Statistiken des FC St. Pauli nach acht Spieltagen der 2. Bundesliga, 23/24, dargestellt als Perzentile im Vergleich zu den restlichen Teams der Liga.

Hä? Was… äh… ist das?

Ich habe mich daran gewagt, die Darstellung der Team Performance doch relativ deutlich zu verändern. Um die oben gezeigte Pizza-Grafik besser einordnen zu können, muss ein Grundsatz beachtet werden: Je mehr deutliche Farbe ihr seht, umso besser ist ein Team – es sei denn da steht ein „NEGATIVE“ bei der Bezeichnung, dann ist es umgekehrt. Die absoluten Zahlen sind auch in der Pizza-Grafik zu finden, die Größe der einzelnen Pizza-Stücke ist aber in Perzentilen dargestellt. Das mache ich, weil dann krasse Ausreißer (wie zum Beispiel die Zahl von nur acht Prozent lang gespielter Bälle des FCSP) die Darstellung nicht so sehr verzerren. In weiteren Schritten werde ich versuchen, das alles noch etwas simpler beziehungsweise intuitiv verständlicher zu machen (dieses „NEGATIVE“ nervt, es muss weg). Vorerst kann man damit aber arbeiten, denke ich.

Zielsicher zum Torschuss

Die Offensive des FC St. Pauli ist beeindruckend, besonders aus dem Passspiel heraus. Kein Team der Liga hat mehr Abschlüsse. Basis für diese Zahlen ist unter anderem die hohe Erfolgsquote bei Pässen ins letzte Drittel (fast 75 Prozent – die höchste der Liga). Dem FCSP gelingt es also mit großer Sicherheit, ins letzte Drittel zu kommen. Und wenn man erstmal drin ist, dann wird es auch oft gefährlich: Mehr als ein Drittel der eigenen Positionsangriffe (also Angriffen aus geordnetem Spielaufbau, keine Konter, keine Standards) enden mit einem Torabschluss – auch das ist ein Spitzenwert. Ebenfalls stark ist, dass der FCSP nach fast 20 Prozent seiner Standardsituationen zum Abschluss kommt.

Diese sehr guten Zahlen bedeuten aber nicht, dass der FC St. Pauli toremäßig die beste Offensive der Liga stellt. Denn das Spiel im letzten Drittel, besonders die Auswahl der Torschuss-Situationen, kann noch verbessert werden. Darauf deutet der Vergleich der meisten Torschüsse der Liga (fast 17 pro Spiel) mit dem xG-Wert von 1,6 pro 90 Minuten hin: Eine Torwahrscheinlichkeit von unter zehn Prozent pro Abschluss ist zu wenig. Es ist so etwas wie das letzte fehlende Puzzleteil, um aus einem bereits richtig stark spielenden Team eine meisterliche Offensive zu machen.

0,7 Gegentore pro Spiel

Meisterlich ist auf jeden Fall die Defensive des FC St. Pauli. Unter der Leitung von Fabian Hürzeler, also in 26 Pflichtspielen, hat sich das Team insgesamt 19 Gegentreffer gefangen. Nur 19 Gegentreffer – also etwa 0,7 pro Spiel. Wenn man dann noch bedenkt, dass sieben Gegentreffer aus zwei der 26 Spiele unter Hürzelers Leitung stammen (auswärts in Kiel und beim HSV in der Vorsaison), dann glänzen diese Zahlen noch goldener, als sie es ohnehin schon tun. Was auch glänzt? Die Pizza-Grafik zur Defensive des FC St. Pauli – mit wenig Farbe nämlich:

Defensiv-Statistiken des FC St. Pauli nach acht Spieltagen der 2. Bundesliga, 23/24, dargestellt als Perzentile im Vergleich zu den restlichen Teams der Liga.

Wenigste Gegentore, wenigste zugelassene Torschüsse, niedrigster gegnerischer xG-Wert, wenigste gegnerische Ballkontakte im eigenen Strafraum, wenigste erfolgreiche Pässe des Gegners nahe am eigenen Tor – defensiv ist der FC St. Pauli das Maß der Dinge in der 2. Bundesliga. Kein Team kann da auch nur ansatzweise mithalten. Wie sehr die Spieler selbst diese Zahlen zu schätzen wissen und sich der Bedeutung guter Defensivarbeit bewusst sind? Karol Mets erklärte am Dienstag in einer Medienrunde, dass die meisten Gegentreffer diese Saison zu verhindern gewesen wären. Er gibt sich mit dem Erreichten also alles andere als zufrieden. Und wie es Fabian Hürzeler wohl findet, dass sich sein Team in den letzten vier Spielen jeweils einen Gegentreffer fing? Die Bereitschaft, das eigene Tor zu verteidigen, ist groß beim FCSP. Und sie bleibt, wie Hürzeler immer wieder erklärt, die Basis für das erfolgreiche Spiel des FC St. Pauli.

Sperre droht

Fünf Gegentreffer gab es bisher – das sind zwei mehr, als Fabian Hürzeler gelbe Karten gesammelt hat. Nach vier Verwarnungen muss man als Trainer für eine Partie draußen bleiben. Es wäre sehr verwunderlich, wenn dies nun nicht irgendwann in der Saison der Fall sein wird. Hürzeler, der als Spielertrainer in Piepinsried sagenhafte 45 gelbe, fünf gelb-rote und eine rote Karte sammelte (lest mal gerne, was man in Piepinsried dazu sagt), dürfte bald für ein Spiel von der Trainerbank verbannt werden.

Hartel mit Köpfchen zum Rekord

Ebenfalls die magische Zahl von fünf hat Marcel Hartel erreicht. Er ist nämlich aktuell der erfolgreichste Torschütze des FC St. Pauli. Da er auch im DFB-Pokal traf und damit schon bei sechs Treffern steht, hat Hartel bereits jetzt, nach nur neun Saisonspielen, einen persönlichen Rekord aufgestellt (bisher waren es die fünf Treffer aus der Vorsaison). Eindrucksvoll ist, wie genau Marcel Hartel seine Tore für den FC St. Pauli erzielte. Klar, per Elfmeter trifft er, sehr sicher sogar. Aber wie er am Samstagabend in der Berliner Luft stand und den Ball unter die Latte köpfte, das war neu. Diese Torjäger-Skills helfen dem FCSP sehr, der am Wochenende in Person von Johannes Eggestein sein erstes Stürmertor der Saison feierte.

Berlin, Deutschland, 30.09.2023, 2. Bundesliga, Fussball - Marcel Hartel (FC St. Pauli) feiert seinen Treffer zum 2:0 gegen Hertha BSC - Copyright: Peter Boehmer DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video.
Kann man Torgefahr auch noch entwickeln, wenn jahrelang kaum ein Treffer gelang? Ja, zeigt Marcel Hartel.
(c) Peter Böhmer

Wohl noch etwas länger auf sein erstes Tor als Spieler des FC St. Pauli, muss Simon Zoller warten. Seit einigen Wochen ändert sich an seinem Status „angeschlagen“ nur wenig. Auch am gestrigen Dienstag trainierte er nur individuell. Die Wahrscheinlichkeit, dass er am Wochenende zum Einsatz kommt, dürfte damit sehr gering sein. Zumal der Schuh durch die aktuelle Form von Eggestein und Hartel nicht ganz so dolle drückt. Für Zoller selbst ist das aber natürlich frustrierend. Er hatte in seiner Karriere bereits mit einer ganzen Reihe von Verletzungen zu kämpfen. Es ist zu hoffen, dass es mit Simon Zoller schnell und dauerhaft vorangeht.

Goldener Herbst

Der FC St. Pauli besticht seit Monaten mit defensiver Stabilität und zuletzt gelang es endlich, auch offensiv in dieser Saison zu glänzen. Für den FCSP sind es aktuell auf jeden Fall goldene Zeiten – und das nicht nur, weil die Blätter der Bäume an der Kollaustraße so langsam merken, dass der Herbst Einzug hält. Man darf dem Rest der Hinrunde voller Vorfreude entgegenblicken.

// Tim

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Sofern nicht anders markiert, stammen sämtliche Statistiken von Wyscout.

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6 thoughts on “Ligaspitze – in (fast) allen Belangen

  1. So schön die neuen Pizzagrafiken und die defensive Stabilität des FCSP auch ist, in Kombination führen sie dazu, dass man Teile der Daten in den Grafiken nicht lesen kann, da sich da alles überlappt.. 😀 der xGA-Wert z.B. hätte mich schon interessiert

  2. Dear Tim,
    I maybe have a suggestion to increase readability of your otherwise very convincing pizza graphics (mmmh, pizza). As the issue is that the slices labelled „negative“ are actually best when the slice is small (if i understood correctly), why not draw them starting from the circle rather than from the center ?
    That way, the conceded crosses slice of 12.43 would correspond to a big slice, carrying the general message that big slice = good
    If you furthermore switch the colors (between light orange and string orange in that case, he pizza as a whole would be visually consistent at a glance.
    I don(t know if it’s actually feasible, but if it is, it might be easier to read. (plus, in the case of a very good team like we are, numbers would be easier to read, too !)

    1. I think I’ll try something else, as well as shorten the number of ststistics. Let’s see what the international break will bring to the MillernTon:)

    1. Hi Tim, ich lese Deine Statistikinfos am allerliebsten. Das ist übrigens ein Feld, dass bei der nächsten Heim-EM unbedingt mal im Fernsehen mehr gezeigt werden sollte. ZDF hatte damals Stani für Spielszenen, ich plädiere für Tim als Statistikgott. Spielaufbau schüttelst Du ja eh aus dem Ärmel… Wie man in Deinen PK Fragen oftmals auch sieht, mündet Dein Hintergrundwissen einfach in den besseren Fragen an die Trainer… für das DFB Team ergäben sich sicherlich verheerende Fragen… 😂😅

      Bleib uns aber trotzdem erhalten…☺️

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