Wunsch und Wirklichkeit

Wunsch und Wirklichkeit

Mit Aljoscha Kemlein schließt der FC St. Pauli eine Kaderlücke. Ob noch jemand anderes kommt, dürfte auch von aktuellen FCSP-Spielern abhängen.
(Titelbild: FC St. Pauli)

Offene Transferfenster sind Fluch und Segen zugleich, natürlich auch für den FC St. Pauli. Der stete Wunsch, dass der eigene Verein urplötzlich mit einem Transfer-Hammer um die Ecke kommt, der eine eingebaute Erfolgsgarantie beinhaltet, er flackert wohl in vielen von uns. Aber die Realität sieht oft anders aus. Eigentlich bei allen Clubs. Bei den großen, weil wildgewordene Reporter*innen jedes noch so kleine Gerücht so maßlos ausschlachten, dass jeglicher Überraschungseffekt voll und ganz auf der Strecke bleibt. Bei den kleinen, weil Wunsch auf Wirklichkeit trifft und nicht selten auf die Transfernachricht das Eintippen des Spielernamens in eine Suchmaschine folgt, weil man diesen noch nie gehört hat. Und wenn mal große Namen zum eigenen Club kommen, dann folgt da noch ein, mal großes, mal übergroßes, „Aber“ – „Aber nur per Leihe“, „Aber seine Kreuzbänder bringt er nicht mit“, „Aber seine Erfolge liegen schon drölfzig Jahre zurück“.

„Kaufen auch etwas ein, was sie nicht können“

Auch beim FC St. Pauli trifft Wunsch auf Wirklichkeit. Mit Aljoscha Kemlein wurde ein Spieler verpflichtet, der sicher das Zeug hat, Reporter*innen irgendwann völlig wild werden zu lassen, wenn mal ein Transfer von ihm ansteht (hier geht es zu seinem Spielerprofil). Das „Aber“ in diesem Fall lautet „Leihe ohne Kaufoption“. Spieler mit so einem Potenzial direkt zu verpflichten, ist fernab der Realität des FCSP.

Dieser Realität, dieser schwierigen Situation auf dem Transfermarkt ist sich Sportchef Andreas Bornemann bewusst. Kurz nach Ende der Hinrunde erklärte er, angesprochen auf mögliche Transfers: „Bayern kauft Harry Kane, da wissen sie ‚der kann alles‘. Bei uns ist es häufig so, dass wir uns für Spieler entscheiden, bei denen wir etwas sehen, was sie zu unserer Spielidee beitragen können, aber auch immer wissen: Wir kaufen etwas ein, was sie nicht können.“ Wieder ein „Aber“ also. Die letzten Transferperioden zeigten jedoch, dass der FCSP unter der Leitung von Bornemann sehr gut mit diesem „Aber“ umgehen kann.

Diese Situation verdeutlicht, warum es für Zweitligisten so enorm schwer ist einen schlagkräftigen Kader aufzubauen und diesen auch zusammenzuhalten. Wenn da mal Leistungsträger wegbrechen, sei es aufgrund von Verletzungen oder, wie in diesem Fall, weil Kontinentalturniere anstehen, dann ist Ersatz (zu) teuer – oder es muss ein „Aber“ in Kauf genommen werden. So werden Konstrukte wie Spielerleihen notwendig. Etwas, was Andreas Bornemann in Hülle und Fülle nicht mag: „Wir hatten in der Spitze teilweise sechs, sieben Leihspieler. Das kann nie wünschenswert sein, weil es im Widerspruch zur Entwicklung innerhalb eines Zwei- bis Drei-Jahres-Zyklus steht.“ (Abendblatt, €)

Vertrauen in Kemlein ist sehr groß

Wie groß das „Aber“ im Fall von Aljoscha Kemlein ist, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Denn vor drei Jahren bei Omar Marmoush hat, spätestens nach seinem ersten Treffer für den FCSP, niemand mehr ob der fehlenden Kaufoption rumgemosert. Anders sind solche Spieler, die eigentlich bereits ein höheres Niveau haben, aber weiter oben nicht auf die notwendige Spielzeit kommen, halt nicht in die 2. Bundesliga zu holen.

Natürlich ist es viel verlangt von einem 19-jährigen, der noch keine einzige Zweitligaminute gesammelt hat, wenn man ihm direkt die Rolle von Jackson Irvine auferlegt. Doch wie groß die Erwartungen an und das Vertrauen in die Fähigkeiten von Kemlein sind, zeigte Fabian Hürzeler, als er am Sonntag erklärte: „Ja, Aljoscha ist direkt ein Kandidat für die Startelf. Sonst hätten wir ihn nicht geholt“ und insgesamt einen sehr positiven ersten Eindruck vom zentralen Mittelfeldspieler hatte: „Ich habe selten einen Spieler gesehen, der so schnell so viel richtig macht. Er kann unsere Inhalte gut aufnehmen.“ (Abendblatt, €)
Ähnlich viel halten wohl auch die Verantwortlichen von Union Berlin von Kemlein. Denn im Zuge der Ausleihe wurde sein Vertrag bei Union verlängert.

Benidorm, Spanien, 07.01.2024 - Aljoscha Kemlein wird als neuer Spieler des FC St. Pauli vorgestellt.
Aljoscha „Josch“ Kemlein ist eine große Rolle beim FC St. Pauli zugedacht.
(c) FC St. Pauli

Aljoscha Kemlein, genannt Josch, stand auch kurz nach seiner Ankunft im Trainingslager des FC St. Pauli dem Vereinskanal Rede und Antwort. Sein Ziel formulierte er dabei ziemlich klar: „Ich will möglichst viel Spielpraxis sammeln, um so die weiteren Schritte im Herrenfußball zu machen.“ Seine Stärken sieht er selbst „im Spiel mit dem Ball.“ Diese Ansicht teilt auch Hürzeler: „Mir gefällt, dass er Lösungen nach vorne sucht, sein Passspiel überzeugt mich. Dazu antizipiert er sehr gut.“

Gibt es weiteren Transferbedarf?

Gerade die schnelle Auffassungsgabe dürfte hochrelevant sein, auch für etwaige weitere Neuzugänge in diesem Winter. Denn die Anforderungen an die Spieler in Sachen Spielsystem sind hoch. Der erfahrene Simon Zoller erklärte gegenüber der MOPO (€), der Fußball des FC St. Pauli ist „einfach anders als das, was ich in meinen Jahren als Profi bisher erlebt habe. Es ist sehr, sehr komplex, macht aber Spaß, weil es sehr fordernd ist.“ Zoller selbst konnte bisher noch nicht so richtig Fuß fassen beim FCSP. Aktuell wird er behutsam im Trainingslager aufgebaut, steigert Stück für Stück die Belastung. Ein fitter Zoller in der Rückrunde wäre sehr hilfreich, da andernfalls wohl doch Bedarf im Sturmzentrum besteht. Zumindest Bedarf in Sachen Konkurrenz. Denn der Konkurrenzdruck auf Johannes Eggestein war im Verlauf der Hinrunde maximal mittelmäßig, auch weil Zoller oft ausfiel.

Zurück zur aktiven Suche auf dem Transfermarkt: Ein Linksfuß für die rechte Offensivseite (Hürzeler bevorzugt diese Kombination) steht weiterhin auf der Liste, da macht Bornemann kein Geheimnis draus. Wem dieser linke Fuß gehört, ist aber unklar. Julian Justvan wird es leider nicht. Das ist sehr schade, weil er überragend gut ins Anforderungsprofil passte. Aber ohne ein Entgegenkommen seines jetzigen Arbeitgebers, also die Bereitschaft für ein Leihgeschäft, ist da wohl überhaupt nichts zu machen. Eine Ablöse kann und möchte sich der FC St. Pauli nicht leisten, die TSG Hoffenheim sei zudem nicht daran interessiert, den Spieler ziehen zu lassen, erklärt das Abendblatt, (€). Da sind wir wieder beim „Aber“.

Und ich schiebe noch ein weiteres „Aber“ hinterher, wenngleich mit anderer Stoßrichtung: Aber der Bedarf auf dieser Position ist vielleicht auch gar nicht so groß. Denn während es im zentralen Mittelfeld allein personell ziemlich dünn wurde und ein Handeln zwingend notwendig machte, sind die Optionen auf der rechten Offensivseite zahlreich vorhanden. Im internen Testspiel am Sonntag im Trainingslager, eine Art Ersatz für das ausgefallene Spiel gegen Excelsior Rotterdam, spielte Dapo Afolayan vorne rechts. Zwar konnte der letztjährige Winterneuzugang auf dieser Position weniger überzeugen als auf der linken Seite. Aber im Ligavergleich ist er trotzdem klar im oberen Drittel anzusiedeln. Afolayan ist übrigens ein Beispiel dafür, wie schnell eine Integration in die komplexen Abläufe des Spielsystems gelingen kann. Er wechselte vorigen Winter zehn Tage vor Rückrundenbeginn zum FCSP – und konnte mehr oder weniger sofort überzeugen.

Chance für Sinani?

Noch nicht überzeugen konnte Danel Sinani. Das liegt auch an der bisher eher übersichtlichen Spielzeit im Trikot des FC St. Pauli: Erst knapp über 100 Minuten stand er in insgesamt sechs Spielen auf dem Platz. Das ist schon ein wenig verwunderlich, da er eigentlich viele Grundvorraussetzungen mitbringt, die Fabian Hürzeler und sein Trainerteam von einem Spieler auf der rechten Offensivseite verlangen. Die Abwesenheit von Connor Metcalfe, der im Wechsel mit Afolayan den Platz rechts vorne meist besetzte, dürfte für Sinani auch eine Chance auf mehr Spielzeit sein. Und dann ist da ja auch noch Eric da Silva Moreira. Der spielt auch oft auf der rechten Offensivseite. Er ist zwar ein Rechtsfuß, aber seine Dynamik und Wucht sind schon beeindruckend und könnten ein neues Element im FCSP-Offensivspiel bedeuten.

Mit Josch Kemlein gibt es also einen Neuzugang auf einer vakanten Position. Die Suche nach einem Spieler für die rechte offensive Außenbahn ist sicher nicht abgeschlossen, aber hier könnte es auch sehr viel eher interne Lösungen geben als auf der Irvine-Position. Insgesamt sind die Transferaktivitäten des FC St. Pauli also alles andere als ausschweifend. Und damit sehr ähnlich zu den Konkurrenten im Aufstiegskampf.

Deutschland, Hamburg, 22.07.2023, Fussball Testspiel, FC St. Pauli - Hapoel Tel Aviv im Millerntor-Stadion  Daniel Sinani (FC St. Pauli)
Copyright: Peter Boehmer
Danel Sinani konnte im Trikot des FC St. Pauli bisher noch nicht überzeugen. Das könnte sich zu Beginn der Rückrunde ändern.
(c) Peter Boehmer

Wenige Wintertransfers in der 2. Liga

Denn von einem „Wettrüsten“ sind die aktuellen Topteams der 2. Bundesliga ziemlich weit entfernt. Der FCSP reagierte mit der Leihe von Kemlein auf den Ausfall von Irvine. Fortuna Düsseldorf hat Christoph Daferner vom FCN ausgeliehen (und Daniel Ginczek ging dafür nach Duisburg). Daferner dürfte im Stürmer-Ranking aber erstmal klar hinter Vincent Vermeij (neun Saisontore, acht davon in seinen letzten sechs Ligaspielen) liegen, ist also wohl eher jemand für die Kaderbreite der Fortuna. Ansonsten verpflichtete der SC Paderborn mit Aaron Zehnter einen Linksverteidiger vom FC Augsburg, der aber diese Saison nur in der Regionalliga zum Einsatz kam. Das war es (!) mit den bisherigen Winter-Neuzugängen der Top 9 der 2. Bundesliga. Sicher wird es zwischen dem Schreiben dieser Zeilen – Montag (17:00 Uhr) – und der Veröffentlichung am Dienstag noch Veränderungen geben. Am Gesamtbild eher geringer Aktivität ändert das aber nichts.

Was bei der gesamten Betrachtung bisher ziemlich wenig beachtet wird und ganz sicher die wichtigste Nachricht während des offenen Wintertransfer-Fensters ist: Der FC St. Pauli hat bisher noch keinen Spieler (oder Trainer) abgeben müssen. Denn klar ist auch, dass gleich eine ganze Reihe von Akteuren das Interesse aus höheren Ligen geweckt haben. Beim SC Paderborn zum Beispiel ist der Verlust von Topspieler Florent Muslija in diesen Tagen ein sehr reales Szenario.
Na klar, die Verpflichtung von Top-Spielern ist das, was man sich wünscht für den FCSP. Kommen wir zum wichtigsten „Aber“, der Wirklichkeit: Das Zusammenhalten des Kaders in diesem Winter wäre aber bereits eine sehr gute Nachricht.

// Tim

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3 thoughts on “Wunsch und Wirklichkeit

  1. Persönliche hoffe ich ja, dass eine Carlo Boukhalfa eine weitere interne Lösung sein kann, um die freie Position im zentralen Mittelfeld zu bekleiden. Von seiner Vorstellung im Millernton habe ich behalten, dass er die Verknüpfung zwischen Defensive und Offensive gut beherrscht. eine zweite Eggestein Story würde mir hier wirklich gut gefallen.

  2. If they are publicizing that they are looking for a left footed right winger, it seems like a clear message to Sinani, whether they encounter one or not.
    By the way, why Justvan and not Nathanael Mbuku ?

  3. Ich bin ja ehrlich gesagt ein ausgesprochener Fan von Leihgeschäften im (kurzen) Winter-Transferfenster. Kaufoption hin oder her.

    Man weiß nach der Hinrunde wo die Reise hin gehen soll, kennt seinen Kader und vielleicht schon bestehende Ausfälle und kann für vergleichsweise wenig Geld und Risiko in ein Regal höher greifen.

    So sind wir 2010 aufgestiegen.

    Klar sollte man seine Mannschaft nicht im Kern auf Leihspieler aufbauen, aber als Ergänzung finde ich das Konzept super.

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