Der FC St. Pauli hat den ersten Wintertransfer engetütet. Mit Aljoscha Kemlein kommt ein defensiver Mittelfeldspieler leihweise vom 1. FC Union Berlin bis Saisonende.
(Titelbild: FC St. Pauli)
Aufgrund der Abwesenheit von Jackson Irvine und Connor Metcalfe zu Beginn der Rückrunde, ist beim FC St. Pauli mindestens eine Position im Kader unbesetzt. Mit der Leihe von Aljoscha Kemlein hat der Verein nun auf die dünne Personaldecke im defensiven und zentralen Mittelfeld reagiert.
The story so far
Aljoscha Kemlein ist 2004 geboren.
Wir lassen das mal kurz sacken, damit Ihr alle ein „Du meine Güte, bin ich alt…“ flüstern könnt.
Noch dazu ist der „Story so far“-Part auch schnell abgehandelt. Denn seit der D-Jugend (2016 – da war er zwölf Jahre alt) spielte Kemlein für den 1. FC Union Berlin. Und, soviel können wir sicher bereits vorwegnehmen, er gilt als eines der größten Talente, die das NLZ des Bundesligisten durchlaufen haben.
Ein Jahr später folgte ihm dorthin auch sein zwei Jahre älterer Bruder Nikolai (Torwart), der aber über Hertha und Nürnberg inzwischen bei der VSG Altglienicke in der Regionalliga Nordost gelandet ist.
Aljoscha Kemlein sammelte dann auch einiges an Spielzeit in den Jugendteams von Union Berlin. In der Saison 20/21 und 21/22 war er sogar Kapitän der U17 bzw. U19. Im März 2022 erhielt er seine erste Berufung für die U18 des DFB. Seitdem wurde er regelmäßig eingeladen. So kommt er inzwischen auf insgesamt elf Länderspiele für die U18, U19 und U20.
Die fast logische Konsequenz einer solchen Entwicklung: In der Saison 22/23 unterschrieb Aljoscha Kemlein seinen ersten Profivertrag bei Union Berlin. Er kam aber weiterhin bei der U19 zum Einsatz, stand zudem in der Bundesliga und auch in der Europa League teilweise im Kader von Union.
Zweifacher Einsatz gegen Real Madrid
Zu Beginn dieser Saison kam er an den ersten beiden Spieltagen in der Bundesliga zu zwei Kurzeinsätzen. Seitdem saß er bei den Profis dann nur noch auf der Bank oder der Tribüne – bis auf einen bemerkenswerten internationalen Einsatz. Das wäre doch mal eine super Frage für so ein Kneipen-Fußballquiz:
„Welcher Fußballprofi hat diese Saison in der Champions League bereits sowohl gegen Real Madrid als auch gegen deren U19 gespielt?“
Gut, wenn sie in diesem Artikel auftaucht, ist die Lösung einfach, aber beim nächsten Gespräch in gemütlicher Runde wisst Ihr jetzt, wie Ihr glänzen könnt.
Tatsächlich kam Aljoscha Kemlein am 1. Spieltag der Champions League im ehrwürdigen Bernabéu in der 83. Minute für Lucas Tousart ins Spiel. Er konnte so also aus nächster Nähe mit ansehen, wie Jude Bellingham in der 4. Minute der Nachspielzeit dann doch noch das 1:0 für Real erzielte.
Ab dem dritten Spieltag der UEFA Youth League spielte er zudem bei der U19 von Union mit, für die er in dem Wettbewerb noch spielberechtigt ist, und stand bei allen vier Begegnungen über die komplette Spielzeit auf dem Platz – so auch beim 0:2 gegen Real im Dezember.
Insgesamt stand Aljoscha Kemlein seit der Saison 19/20 in 54 Partien auf dem Platz. Das ist ziemlich wenig Spielpraxis. Gerade in den ersten beiden Saison war das natürlich auch der Pandemie geschuldet. Aber in der Saison 21/22 (19 Spiele) und 22/23 (15 Spiele), sowie 23/24 (bisher sieben Spiele) ist das jetzt sicher nicht die Anzahl an Minuten, die man sich wünscht, wenn man als junger Spieler in der Entwicklung vorankommen möchte.
Der 1. FC Union Berlin hat keine U23 in der junge Spieler mit Perspektive die notwendige Praxis sammeln können. Diese Situation mit wenig Spielzeit ist sicher der Hauptbeweggrund, warum Kemlein nun für ein halbes Jahr zum FC St. Pauli wechselt. Die Tatsache, dass man ihn nur bis Saisonende und dem Vernehmen nach ohne Kaufoption verpflichtet, zeigt, was sich auch die Verantwortlichen von Union Berlin noch von ihm erhoffen. Ein längeres Interview mit ihm hat Union Berlin nach seinen ersten Profiminuten veröffentlicht.
Das sagen die Experten
Um Aljoscha Kemlein etwas besser kennenzulernen, hat uns Sebastian Fiebig vom Textilvergehen ein paar Fragen beantwortet:
Moin Sebastian, Aljoscha Kemlein wechselt auf Leihbasis zum FC St. Pauli. Was für einen Eindruck hast Du von ihm?
Wir haben Aljoscha Kemlein nur wenig gesehen in diesem Jahr. Dort hat er seine Sache im zentralen Mittelfeld aber gut gemacht. Unter anderem beim Champions-League-Spiel in Madrid.
Was sind seine Stärken und auf welcher Position ist er Zuhause?
Ich finde, dass er eine gute Ruhe und Ballsicherheit ausstrahlt. Ich habe ihn bisher eher im defensiven zentralen Mittelfeld gesehen, als Sechser oder Achter. Dadurch hatte er wenig Ausflüge nach vorne, aber in seinen Partien auch ein paar gute Tormöglichkeiten. Beispielsweise im ersten Bundesligaspiel.
Es kann gut sein, dass er sich in der U19 mehr nach vorne eingeschaltet hat. Aber das weiß ich nicht.
Aljoscha Kemlein gilt als eines der größten Talente aus dem NLZ von Union. Wieso hat er sich bisher nicht in der Bundesliga durchsetzen können?
Er wäre wahrscheinlich öfter zum Einsatz gekommen, wenn sich die Mannschaft nicht in eine solche Krise manövriert hätte. Das ist extrem undankbar für junge Spieler, weil man dann in solchen Situationen eher auf gestandene Profis mit Qualität setzt. Und Union hat diese Spieler.
Passt dieser Wechsel aus Deiner Sicht?
Aus den eben genannten Gründen finde ich die Leihe zu einem spielstarken Zweitligisten sehr gut. Dort kann er sich in einem Nicht-Krisen-Umfeld Spielpraxis im Männerbereich holen. Ich glaube, dass das für beide passt.
Vielen Dank für deine Zeit, Sebastian.
Das sagen die Daten
Bundesligaspieler mit hohem Potenzial
Laut den Scouting-Experten vom Global Soccer Network könnte die Verpflichtung von Aljoscha Kemlein ein Volltreffer sein. Er wird als „Typ Balleroberer“ definiert, der zudem aber auch im zentralen Mittelfeld agieren kann. Zu seinen Stärken gehören ein sauberer erster Kontakt, eine gute Technik sowie ein sauberes Passspiel. Zudem verfüge er über einen ordentlichen Distanzschuss (das konnte man zum Beispiel im Bundesligaspiel gegen Darmstadt sehen, als ein Fernschuss von ihm gegen die Latte knallte). Als „sehr ordentlich“ werden die Fähigkeiten Kemleins in der Defensive gegen Mann und Ball eingeschätzt. Er besitze ein gutes defensives Positionsspiel, sei gut im defensiven 1-gegen-1, mit sehr gutem Timing im Tackling ausgestattet und körperlich stabil. Seine Spielweise beschreibt GSN als „mutig, aggressiv und durchgehend konzentriert“. Er sei taktisch gut geschult und behalte auch unter Druck die Übersicht.
Liest sich das gut? Ja, das liest sich sehr gut! Aber natürlich gibt es auch Bereiche, die verbessert werden können: Als „ausbaufähig“ bezeichnet GSN das Kopfballspiel von Aljoscha Kemlein. Zudem sei sein Raumverhalten, besonders in Umschaltmomenten, noch nicht optimal, ebenso die Entscheidungsfindung. Zudem müsse er noch an Tempo, Beweglichkeit und Antritt arbeiten. Mit 19 Jahren sollte das athletische Potenzial aber auch noch nicht ausgeschöpft sein.
Der aktuelle GSN-Index von Aljoscha Kemlein liegt bei 63.8, womit er im Bereich leicht unterdurchschnittlicher Bundesligaspieler liegt (und einen höheren Wert als Irvine und Metcalfe aufweist – hier könnt ihr die Zahlen vergleichen). Sein möglicher GSN-Index liegt bei 74.7, was internationale Klasse bedeutet. Basierend auf diesen Zahlen und Einschätzungen dürfte Kemlein eine Verstärkung für den FC St. Pauli bedeuten.
Irvine-Ersatz? Ja!
Fähigkeiten und Potenzial hin oder her – die Fußstapfen sind groß in die Aljoscha Kemlein bestenfalls treten soll. Er soll Jackson Irvine auf dem Platz ersetzen. Daher haben wir mal bei GSN gefragt, wie ähnlich sich beide Spieler sind. Die Antwort: „Aus Datensicht sollte das passen. Legt man die Eigenschaften der beiden übereinander, kommt man auf einen Similarity Score von 86.75 (Skala von 0-100). Es gibt also eine sehr große Übereinstimmung. Irvine physisch stärker und dynamischer, dafür ist Kemlein mit Ball, technisch, etwas stärker.“
19 Jahre, unerfahren = keine Soforthilfe?
Hmm, es ist ziemlich schwierig diesen Transfer einzuschätzen. Ganz sicher ist Aljoscha Kemlein ein großes Talent. Aber kann ein 19-jähriger mit keinerlei Erfahrung in der 2. Bundesliga den Bedarf füllen, der durch die Abwesenheit von Jackson Irvine und Connor Metcalfe im zentralen Mittelfeld entstanden ist? Die Überzeugung, dass Kemlein genau der Richtige ist, scheint bei den Verantwortlichen des FCSP vorhanden zu sein. Andreas Bornemann erklärt: „Trotz seines noch jungen Alters ist Aljoscha schon sehr weit in seiner fußballerischen Entwicklung. Deswegen trauen wir ihm zu, schnell eine Alternative für die Position im zentralen Mittelfeld zu sein.“
Trotzdem wird erst der Praxis-Test zeigen, wie gut das alles passt. Es gibt auch eine Menge Beispiele, dass genau dieser Schritt – als talentierter Spieler in einer tieferen Liga Spielpraxis sammeln – funktionieren kann und so für alle Seiten ein Gewinn ist. Robert Wagner, den Fürth aus Freiburg für ein Jahr ausgeliehen hat, ist so ein Fall. Paul Wanner (Elversberg), Tom Rothe (Kiel) und Cristos Tzolis (Düsseldorf) sind weitere junge Leihspieler, die innerhalb kürzester Zeit zu Leistungsträgern wurden.
Man darf also gespannt sein, wie schnell sich Aljoscha Kemlein beim FC St. Pauli zurechtfinden wird. Fabian Hürzeler betont, dass er alles mitbringe „was wir uns für die zentrale Position vor der Abwehr wünschen.“
Viel Zeit zur Eingewöhnung bleibt allerdings nicht. Umso wichtiger, dass Kemlein nun noch Teile des Trainingslagers mit absolvieren kann. Die Hoffnung, dass er dem FCSP in der Rückrunde massiv helfen wird, sie ist nicht unberechtigt.
Herzlich Willkommen am Millerntor, Aljoscha Kemlein!
// Tim
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Guten Morgen aus der berliner S-Bahn! VSG Altglienicke spielt in der Regionalliga Nordost… da wo unsere Freunde vom SVB03 och spielen…
Moin Björn
Danke. Keine Ahnung, wohin das „Nord“ da bis eben verschwunden war.