Die Zahlen und Statistiken zeigen, dass der FC St. Pauli nicht mehr so sattelfest ist. Fabian Hürzeler sieht das auch und schwört sein Team auf den Endspurt ein.
(Titelbild: Peter Boehmer)
„Der Fokus auf die Null wird immer oberste Priorität haben – das ist unsere Identität.“ Diesen Satz hört man so oder so ähnlich aus dem Mund von Fabian Hürzeler seit Ende 2022 in steter Regelmäßigkeit. Das Team des FC St. Pauli definiert sich über die defensive Stabilität, hat sich unter Hürzelers Leitung nur 39 Gegentreffer in 41 Ligaspielen gefangen und stellt demnach die beste Abwehr der 2. Bundesliga.
Ungewohnte Defensivschwächen
Doch von dieser Stabilität war in den letzten Spielen weniger als zuvor zu sehen. Gegen Kiel und Schalke gab es jeweils drei Gegentreffer. Fabian Hürzeler zeigte sich darüber verärgert: „Auf Schalke sind es zwei Abstöße vom Torhüter, die zu Gegentreffern führen. Wir kriegen aufgrund von schlechter Tiefensicherung und mangelndem Zweikampfverhalten Gegentore, die nicht typisch für unseren Verlauf der Saison sind.“ Drei Gegentreffer in einem Spiel gab es unter Hürzeler insgesamt bisher nur viermal, nun aber zweimal in Folge. Zehn Gegentreffer gab es in den sieben Spielen der Rückrunde. In der gesamten Hinrunde waren es gerade einmal fünfzehn. Was ist da passiert?
Der Blick in die Statistiken zeigt sogar, dass der Trend nicht erst in den beiden letzten Partien in Richtung einer etwas rissigeren Defensive geht. Der FC St. Pauli hat in der gesamten Rückrunde mehr gegnerische Torschüsse zugelassen als in der Hinrunde (von 7,9 auf 10,1 pro 90 Minuten), bei den xG-Werten ist der Anstieg sogar noch deutlicher: In der Hinrunde lag dieser bei 1,0 pro Spiel, nun liegt er bei 1,7 – die Gegentorwahrscheinlichkeit hat also enorm zugenommen.
Gegner kommen öfter vor das FCSP-Tor
Diese Zunahme an gegnerischen Abschlüssen und Gegentoren liegt nicht etwa nur daran, dass es die Gegner nun etwas häufiger oder aus besseren Positionen probieren. Sie kommen auch einfach viel öfter gefährlich vor das Tor des FC St. Pauli. Die Anzahl an gegnerischen Ballkontakten im Strafraum des FCSP ist von 10,9 auf 15,7 gestiegen. Auch bei Standardsituationen ist ein Anstieg an Torabschlüssen um rund 20 Prozent zu erkennen. Ist die Defensive also ein Problemfall des FC St. Pauli geworden?
Zumindest ist es nicht ganz so einfach, die Frage aus dem letzten Absatz zu beantworten. Die Spielweise eines Teams muss ganzheitlich betrachtet werden, damit auch genau erkannt werden kann, wo der Hase im Pfeffer liegt. Der ist im Fall des FC St. Pauli vielleicht sogar eher in der Offensive zu finden. Klingt komisch, ist aber so, wie der abermalige Blick in die Statistiken zeigt.
Nicht mehr so dominant
Zwar haben sich die xG-Werte in der Offensive des FC St. Pauli im Vergleich zur Hinrunde nur marginal verändert (1,83 vs. 1,78), aber die Anzahl an Torschüssen ist deutlich zurückgegangen (von 16,9 auf 12,4). Dem FCSP gelingt es also etwas besser, die Torabschlüsse in wirklich guten Abschlusspositionen zu nehmen. Aber sie kommen seltener in Abschlusspositionen.
Das hängt direkt mit den Problemen im eigenen Aufbauspiel zusammen. Der Ballbesitzanteil des FC St. Pauli ist im Vergleich zur Hinrunde um vier Prozentpunkte gesunken (von 57 auf 53 Prozent). Ursächlich dafür sind auch mehr Ballverluste, vor allem im eigenen (von 14 auf 17 pro 90 Minuten gestiegen) und mittleren Spielfelddrittel (von 33 auf 41), die wiederum direkt mit den schwächeren offensiven Zweikampfwerten (Erfolgquote von 40 auf 36 Prozent gesunken) und dem ungenaueren progressiven Passspiel (Erfolgsquote von 79 auf 70 Prozent gesunken) zusammenhängt.
Weniger Offensivaktionen und weniger erfolgreiche Offensivaktionen
Das alles führt dazu, dass der FC St. Pauli offensiv insgesamt weniger Aktionen hat. Die Anzahl an Positionsangriffen, also Angriffen aus geordnetem Spielaufbau, hat von 35 pro Spiel auf 29 abgenommen. Zudem hat sich der FCSP aus dieser geringeren Anzahl an Angriffen auch weniger Torschüsse erspielt. Nicht mehr 31 sondern nur noch 22 Prozent der Positionsangriffe enden mit einem Torschuss, was zum Beispiel auch daran liegt, dass die Flankengenauigkeit massiv abgenommen hat (von 37 auf 25 Prozent).
Wie hängen die offensiv schwächeren Leistungen nun mit der eigenen Defensive zusammen? Da kommt wieder einer der prägenden Sätze von Fabian Hürzeler ins Spiel: „Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor erzielen.“ Umgekehrt bedeutet dieser Satz, dass der Gegner häufiger ein Tor erzielen kann, wenn man selbst offensiv nicht mehr so präsent ist. Die defensiven Schwierigkeiten haben also auch etwas mit den Problemen im Offensivspiel zu tun. Und diese Probleme haben damit zu tun, dass sich die Gegner inzwischen besser auf die Spielweise des FCSP eingestellt haben. Das ist alles keine neue Erkenntnis, aber die Zahlen zeigen diese Probleme ziemlich deutlich auf.
Back to the roots
Angesprochen auf diese zuletzt gezeigten Schwächen, betont Fabian Hürzeler, dass er diese Probleme ebenfalls beobachtet hat und erklärt: „Wir müssen wieder back to the roots, zurück zu den Dingen, die uns stark gemacht haben. Natürlich gibt es auch Phasen in einer Saison, wo Du nicht am Limit performen kannst, das ist menschlich. Trotzdem ist es dann natürlich wichtig, die einfachen Dinge richtig zu machen.“
Mit dieser Rückkehr meint Hürzeler zum Beispiel, dass man in der Eröffnung wieder mit zwei anstatt eines Kontakts spielt, wieder vermehrt auf die Nutzung von Dreiecken setzt und dass man bei langen Bällen die innere Linie verteidigt. Diese „einfachen Dinge“ haben den FC St. Pauli laut Hürzeler „stark gemacht“ und er zeigt sich durchaus selbstkritisch bei diesem Punkt: „Es kann sein, dass wir diese durch die ganzen weiteren Lösungen, die wir versuchen uns zu erarbeiten, verloren haben.“
Doch nur ein „Zurück zu den Wurzeln“ dürfte nicht reichen im Saisonendspurt. Denn die gegnerischen Teams haben zuletzt immer bessere Lösungen gegen das Aufbauspiel des FC St. Pauli präsentiert. Für Hürzeler geht es dabei darum, die richtige Balance zu finden: „Wir wollen immer neue Lösungen finden. Wichtig ist aber: Wie viel Input gibst Du der Mannschaft und wie viel nimmst Du von ihren Basics weg? Ich glaube da ist uns in den letzten Wochen zu viel von diesen einfachen Dingen abhanden gekommen, die wir in der Hinrunde gut gemacht haben.“
Tabellenführer – auch in der Rückrunde
Aber worüber reden wir hier eigentlich? Denn bei einer Sache war der FC St. Pauli in der Hinrunde bei weitem nicht so gut, wie er es jetzt in der Rückrunde ist: In der Hinrunde hat das Team weniger Punkte aus den ersten sieben Spielen geholt – aber eben keines verloren. Daher ist auch das Gefühl von Niederlagen ungewohnt („Ich finde, dass wir Niederlagen extrem überdramatisieren“, sagt der 31-jährige Cheftrainer). Nun ist man aber weiterhin Tabellenführer, auch in der Rückrundentabelle. Trotzdem geht es darum, dass man nun selbst die feinsten Trends wahrnimmt, damit ja kein Schlendrian Einzug hält. Hürzeler: „Wir sind teilweise in Lethargie verfallen auf dem Platz, haben nach der Führung das Fußballspielen eingestellt. Das hat auch viel mit Einstellung, mit dem Kopf zu tun. Bei diesen Themen musst Du die Balance finden zwischen Input und dem Ansprechen der mentalen Ebene.“
So wird der FC St. Pauli also beim Spiel gegen Hertha BSC versuchen, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren – und so zurück zur alten Stärke. Die Erinnerung an das Hinspiel dürfte da helfen, war es doch eine der besten Saisonleistungen und sicher auch eines der schönsten Spiele des FCSP. Aber was damals natürlich den Erfolg in Berlin besonders schön machte, ist in der jetzigen Saisonphase überhaupt nicht mehr wichtig. Fabian Hürzeler betont, dass es in der Crunchtime nun auf Effektivität und nicht auf Schönheit ankommt: „Du steigst nicht auf, wenn Du den schönsten Fußball spielst, sondern wenn Du den effektivsten und besten Fußball spielst. Kein Aufsteiger aus den Vorjahren hat in den letzten Spielen der Saison glorreich Fußball gespielt.“
Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des/r Betrachter*in – ich persönlich denke, dass ein Aufstieg aus sportlicher Sicht eines der schönsten Dinge ist. Wie genau der FCSP das schafft, ist mir zum jetzigen Zeitpunkt völlig egal. Forza!
// Tim
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Sofern nicht anders markiert, stammen sämtliche Statistiken von Wyscout.
FCSP spielt teilweise sehr aufwendig. Das kostet Energie. Dominanz hat seinen Preis.
Steile These : Könnten eventuell auch die schlechteren Platzverhältnisse zu den schlechteren Statistiken geführt bzw. beigetragen haben ?
Pässe „“unsauberer““ , Ballannahmen dadurch schwieriger… usw.
Was mir beim Spiel gegen Schalke ganz besonders aufgefallen ist, waren die Unterschiede beim Topspeed. Lasme ist mit 34 km/h notiert, Kabadayi mit sogar 34,9 und selbst Terodde mit 31.
Bei uns waren Dzwigale (32,6) und Treu mit (32,4) die schnellsten, Mets (31,6), Wahl (30,8) und Saliakas (30,2) hatten Probleme, da mitzukommen. (nebenbei: Irvine – 27,7).
Bei dem kick and rush, den Schalke gespielt hat, dazu noch neunmal im Abseits (wir nie), also eh schon immer am Rande der kritischen Zone, scheint dies ein erschreckend einfaches Rezept gegen unsre Spielweise gewesen zu sein.
Das vereinfacht den Spielverlauf sicherlich zu sehr, doch ganz unterschlagen sollte man diesen Aspekt auch nicht.
Tim, among your innemurable merits, you know how to build a coherent and meaningful narrative out of pieces of data. (and to add to a less pessimistic view of the situation : since the beginning of the second phase, we also managed to win against three of the most dangerous competitors (two of them away!) and all of our losses until now are not that impactful in terms of opponents momentum)
Forza St. Pauli. müsste sich nicht die Raute mehr fragen warum man nicht schon längst oben steht? Ohne viel Aufwand schafft man es nicht. Gibt Trainer ja vor. Immer 100% und bißchen hoffen das die Konkurrenz auch federn läßt.