Ob organisch oder chemisch – 20 Jahre Ultrà am Millerntor!

Ob organisch oder chemisch – 20 Jahre Ultrà am Millerntor!

„Wer es nicht fühlt, kann es nicht verstehen“ – so abstrakt und doch so wahr. Ohne Frage ein Totschlagargument, das mich stets jede Diskussion als den sicheren Sieger beenden ließ. Ich fühle es immer noch. Und das kann mir keiner nehmen. Ein Gastbeitrag von Finn de Rella.
(Titelbild: Stefan Groenveld)

Mein Ultrà-Credit-Konto verharrt seit Jahren im Dispo – einem nicht unerheblichen Teil der heutigen Gruppenmitglieder wird meine Visage gänzlich unbekannt sein. Schließlich gehe ich seit etwa 2015 nicht mehr regelmäßig ans Millerntor. Und doch empfinde ich noch immer unglaublich viel für diese Gruppe, die Kurve und ihre Geschichte.

Erstmals Notiz von den Ultras nahm ich bei meinem ersten Besuch am Millerntor im Februar 2003 gegen den VfB Lübeck. Mit meinen damals 13 Jahren hatte ich recht spät den Weg zum FC St. Pauli gefunden. Sozialisiert in den 1990ern galt es sich im ländlichen Kindergarten lediglich zwischen Bayern München und Borussia Dortmund zu entscheiden. Dass meine Wahl damals auf den FCB fiel, sollte sich in meiner Fanhistorie später noch als glückliche Fügung erweisen. Die Besuche in der Bayern-Kurve ermöglichten seinerzeit so manch differenzierten Blick. Europäische Nächte in der Champions League gehören hierbei sicher zu den unvergesslichen Highlights. 

Zurück ins Jahr 2003: Gegen den VfB Lübeck in der Nordkurve stehend war da dieser Haufen von 100-200 Leuten auf der Gegengeraden, von wo aus die Gesänge bis in die Nordkurve getragen wurden, permanent die Hände oben waren und Fahnen geschwenkt wurden. Es brauchte nur Sekunden, um den Block D der alten Gegengerade zu einem echten Sehnsuchtsort werden zu lassen. Allerdings war ein Sechser im Lotto seinerzeit ungleich wahrscheinlicher, als eine Karte für diese Tribüne zu bekommen. Dass der FCSP in der Saison 2002/03 in die Regionalliga abstieg, hatte für mich auch sein Gutes. Denn der Zuschauerzuspruch ließ leicht nach und ein ums andere Mal war ich überglücklich, ein Ticket für die ehrwürdige Gegengerade auf St. Pauli zu ergattern. 

September 2003 – 1. Runde DFB-Pokal – zu Gast am Millerntor ist die Arminia aus Bielefeld und ich stand erstmals im Block D. Mit unter 10.000 Zuschauern war das Millerntor beschämend schlecht besucht. Allein, mir kam es vor, als sei ich von 50.000 geisteskranken Freaks umgeben. Verdammt nochmal, war das ein Brett. Sankt Pauli – ein bestenfalls durchschnittlicher Regionalligist gegen die klassenhöheren Bauern aus Ostwestfalen – erkämpfte sich erst ein 0:0, überstand dann noch die Verlängerung und kegelte den DSC letztlich im Elfmeterschießen aus dem Pokal! Über 120 Minuten pure Magie und Leidenschaft. Man hätte mich dort auf den Traversen in der Pfütze liegen lassen können – ich wäre als der glücklichste Mensch der Welt gestorben.

So oft es ging fuhr ich fortan ans Millerntor. Dass die Menschen, die dort so viel Lärm machen, in einer Gruppe organisiert sind, die auf den Namen Ultrà Sankt Pauli hört, fiel mir erst später dank eines Flyers auf. Der Terminus „Ultras“ war mir bis hierhin gänzlich unbekannt und das Internet gab seinerzeit wahrlich nicht viel her. Gleichwohl war es allein die Vokabel, die mich faszinierte. Was also tun? Hinfahren, die Protagonisten scannen, ihr Verhalten beobachten. Als allererste Maßnahme sah ich das Kaufen einer The North Face Jacke als unumgänglich an. In puncto Kleidung und Habitus galt es sich an ausgewählten Persönlichkeiten aus der Kurve zu orientieren. Einige umgab eine unwahrscheinliche Aura, an der sich meine Augen einfach nicht sattsehen konnten. Dann war da dieser eine verrückte, sich selbst geißelnde Vorsänger, dessen Stimme durch Mark und Bein ging, der sich und die Kurve mit wahnsinnigen Blicken zu immer mehr Lautstärke peitschte.

Uns’re Fahnen weh’n nur für dich!
(c) Stefan Groenveld

Geradezu gelähmt und in Ehrfurcht erstarrt stand ich da, wenn Ultras der ersten Stunde wahlweise im Block oder im Fanladen neben mir standen und sich unterhielten. Unauffällig Mäuschen spielend blickte ich gespielt desinteressiert in der Gegend herum und saugte auf. Ich versuchte, die Lebenswelt zu verstehen, denn eines begriff ich schnell: Was auf dem Land „cool“ war, wurde auf St. Pauli bestenfalls belächelt. Es war schlicht und ergreifend eine andere Welt, die sich anschickte, meinen bisherigen Lifestyle komplett ad absurdum zu führen. Dies führte rückblickend dazu, dass ich mich sukzessive von meinem damaligen Freundeskreis abnabelte und spätestens seit Fertigstellung der Südkurve all meine Wochenenden für St. Pauli opferte. „Coole Kids sind bei USP“ stand auf einem dieser Postaufkleber. Den zähen Unterricht auf dem Gymnasium nutzte ich, um mit eifriger Akribie tausende dieser Sticker zu produzieren. Anfangs mehr schlecht als recht, doch irgendwann konnten sich die Dinger sehen lassen! 

Zum zehnjährigen Jubiläum von USP schrieb ich im Jahr 2012 bereits einen ähnlichen Artikel (der es seinerzeit als Beispiel für Beharrlichkeit ins „Azione Kaos“ Fanzine der Ultras vom FSV Zwickau schaffte) für die basch und bewertete eben jenen Abnabelungsprozess ausschließlich positiv. Retrospektiv würde ich den eigens herbeigeführten Bruch zur „Heimat“ sicherlich nicht zu den cleversten Entscheidungen meines Lebens zählen und bin froh, dass sich die hinterlassenen Gräben in den vergangenen Jahren nachhaltig zuschütten ließen.

Glücklicherweise verfügte Ultrà Sankt Pauli um und bei 2004 herum über eine liebevoll gestaltete Internetseite, auf der einige Dinge detailverliebt erklärt wurden. In meinem Wissenshunger kopierte ich mir jeden Textfetzen, jede Grafik, jedes Foto heraus und speicherte es auf meiner Festplatte. Noch heute bin ich oftmals froh, mir damals ein kleines Archiv an alten Sachen angelegt zu haben. Vieles davon lässt sich heute nur noch schwer wiederfinden. Allen voran die detailversessene Erklärung, warum man sich nun „Ultrà“ und nicht „Ultras“ nannte, in welche Richtung der Akzent über dem „a“ zu stehen hat und wie er sich bei Versalien verhält, kann ich bis heute nahezu auswendig. Um das komplexe Puzzle FCSP-Fanszene annähernd zu komplettieren, tat das 2005 erschienene Jubiläumsbuch zu 15 Jahren Fanladen St. Pauli sein Übriges. 

Als USP im Jahr 2006 die Pläne zu „Ab in den Süden – die Kurve der Ultras“ offenlegte, war für mich sofort und auch nach dem 100. geflashten Lesen der Webseite glasklar, dass genau das von nun an einen nicht unwesentlichen Teil meines Lebens ausmachen würde. Täglich, nein stündlich, checkte ich die Livecam, die den Baufortschritt der Südkurve dokumentierte. Das ganze zog sich zeitweise wie ein Kaugummi und manch einer verlor zwischenzeitlich den Glauben daran, dass sich dort überhaupt nochmal etwas tut. 2008 gegen Augsburg wurden letztlich Fakten geschaffen und ich stand da, wo ich nie wieder weg wollte: in einer selbstverwalteten, bunten und lauten Fankurve!

Die Südkurve in voller Blüte.
(c) Stefan Groenveld

Mit jedem Heimspiel und mit jeder Auswärtsfahrt rückte ich dem Kosmos USP ein Stückchen näher. Von der Natur eher mit zurückhaltendem Charakter ausgestattet, passierte das ganze keineswegs von heute auf morgen. Ich leistete mir Fehltritte und dumme Sprüche. Ich musste lernen und mein Verhalten manches Mal überdenken. Erziehung ist ein elementarer Auftrag einer Fankurve und zu dieser Zeit funktionierte das zumindest in meinem Fall ziemlich zuverlässig. Nie mit Drohungen oder gar Gewalt versehen, jedoch klar in der Ansprache. Abgeschreckt hat mich das nie – sondern motiviert, mich im Rahmen meiner Möglichkeiten zu engagieren.

Die Frage, wie man Teil einer Ultrà-Gruppe wird, bewegt Jugendliche heute genauso, wie sie mich damals bewegte. Und die Antwort kann nach wie vor nur lauten: Präsenz, Engagement, Lernwilligkeit und vor allem Eigeninitiative. Die Wirkmacht vor allem erfahrener und charismatischer Protagonist:innen auf junge Menschen darf nicht unterschätzt werden. Es gab Leute, die mir selbst nach dem 100. Mal weder die Hand gaben, noch von sich aus „Hallo“ sagten. Im ersten Moment „Arschloch“ denkend, galt es, es gerade denen zu beweisen, dass ich am Start bin. 

In den folgenden Jahren fuhr ich nahezu alles, was nur irgendwie ging. Alles Geld floss sofort in Auswärtsfahrten und die Fahrten nach Hamburg, für die ich hin und zurück 140 Kilometer zurücklegen musste. Meine Eltern wagten sich eines Tages aus der Deckung, versuchten, den in ihren Augen gelebten Masochismus ihres Sohnes zu verstehen. Seit Jahren jede Familienfeier verpasst, alle zwei Wochen quer durch die Republik in einem stinkenden Bus ohne Beinfreiheit oder funktionierende Toilette? Warum machst du das, Junge? Was fasziniert dich daran? Meine Antwort: Ich durfte letztens ein Bündel Fahnen vom Bus zur Gästekurve tragen. Sie schauten erst mich an. Dann schauten sie sich an. Und aßen wortlos weiter. Welchen Wert das „Material“ hat, wussten sie nicht. Für mich war es zu jener Zeit schlicht das größte, diese „Verantwortung“ zu tragen. 

Und damit schließe ich diese persönliche Abarbeitung meiner Gedanken zum 20-jährigen Bestehen von Ultrà Sankt Pauli. Einer Gruppe, die ich damals wie heute für ihren unverwechselbaren Stil schätze und die in mir vor allem zwischen 2003 und 2014 eine Faszination auslöste, wie es nie wieder etwas anderes könnte. Mit nunmehr 33 Jahren, Familie und Pipapo stehen seit geraumer Zeit gewiss andere Dinge weit im Vordergrund. Und doch können weder die räumliche Entfernung, noch die Jahre des Abstands etwas an meiner Identifikation ändern.

Auf 20 weitere Jahre Ultrà am Millerntor! Lang leben die Ultras!

// Finn de Rella

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