Der FC St. Pauli hat sein Winter-Trainingslager beendet. Spätestens jetzt wird deutlich, dass es mit veränderter Strategie und Formation in die Rückrunde gehen könnte.
(Titelbild: Peter Böhmer)
Nach einer intensiven Woche in der spanischen Sonne, geht es am Mittwoch, den 11. Januar für die Spieler des FC St. Pauli bei „Hamburger Winterwetter“ an der heimischen Kollaustraße weiter. Gearbeitet wird am Feinschliff für die Rückrunde. Und die ersten Wochen der Vorbereitung lassen bereits einige Rückschlüsse zu, mit welcher Spielidee Fabian Hürzeler diese angehen möchte.
5-2-3 keine Eintagsfliege?
„Ob das jetzt immer so sein wird, dass wir mit zwei Sechsern spielen und mit drei Spielern anlaufen, wird davon abhängen welches Personal auf dem Platz steht und was uns der Gegner anbietet“ hatte Fabian Hürzeler auf der Pressekonferenz zum Dienstantritt als Cheftrainer des FCSP kundgetan. Sein Team hatte im ersten Testspiel mit einer im Vergleich zur Hinrunde leicht veränderten Formation gegen Union Berlin agiert: Anstelle des zuletzt praktiziertem 5-3-2 mit einem Sechser und einer Doppel-Acht, standen zwei Sechser auf dem Platz. Eine Eintagsfliege, die genau auf den Gegner zugeschnitten war? Zumindest schien sie auch gegen den FC Lugano zu passen, denn erneut wählte Hürzeler mit seinem Team diese Formation.
Merkmale der neuen Formation
Nein, ich glaube nicht, dass es sich um eine Eintagsfliege handeln wird. Union Berlin und der FC Lugano haben zwei gänzlich unterschiedliche Formationen und Spielideen angeboten. Und in beiden Fällen agierte der FC St. Pauli in einem 5-2-3. Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn hier nicht an einer neuen Formation gearbeitet wird. Schauen wir uns die Merkmale also mal genauer an:
Nicht nur die Doppelsechs ist eine Veränderung im Vergleich zur Formation der Hinrunde. Ganz entscheidend ist das Verhalten der beiden Schienenspieler (Ritzka/Paqarada & Saliakas), also die Höhe auf der sie sich positionieren. Sowohl im Pressing, als auch im eigenen Offensivspiel agieren diese mindestens auf Höhe der beiden Sechser, wenn nicht sogar etwas höher. Dieses Verhalten bringt einige Vor- und Nachteile gegenüber anderen Formationen:
- Vorteile
- Sowohl gegen Dreier- als auch gegen Viererketten bieten drei Offensivspieler mindestens eine Gleichzahl im Angriffszentrum. Die bleibt auch dann vorhanden, wenn das Team über außen spielt, denn…
- Durch die Schienenspieler bekommt das Offensivspiel eine gute Breite, ohne numerisch im Zentrum an Power zu verlieren. Zudem können recht simpel Überzahlsituationen auf den offensiven Außenbahnen kreiert werden.
- Mit drei Offensivspielern und zwei Schienenspielern ist das Team bei Ballverlusten gut für das Gegenpressing formiert.
- Nachteile
- Anfälligkeit auf Außenpositionen für Konter, da Schienenspieler oft hoch positioniert.
- Stellt der Gegner drei zentrale Mittelfeldspieler auf (z.B. bei einer Mittelfeldraute) besteht hier eine Unterzahl (und Gefahr die Halbräume zu verlieren)
- Drei spielstarke Innenverteidiger werden zwingend benötigt, um den Ball in gefährliche Zonen zu bekommen.
- Ansprüche an Qualität und Laufstärke der Schienenspieler enorm hoch.
Ich muss zugeben, dass ich Bauchschmerzen damit habe, die Formation als 5-2-3 zu beschreiben. Denn in vielen Spielsituationen wird daraus ein 3-4-3, teilweise dürfte sogar ein 5-4-1 daraus werden, wenn das Team richtig tief steht. Allein dadurch wird ein weiteres Merkmal dieser Formation deutlich: Es ist sehr flexibel, kann an viele Spielsituationen angepasst werden. So könnte zum Beispiel ein Zentrumsfokus des Gegners mit einer veränderten Positionierung der eigenen Offensive (statt Dreierkette: ein Zehner und zwei Angreifer) begegnet werden.
Obwohl bereits zwei Testspiele mit dieser Formation bestritten wurden und es auch gar nicht mal so schlecht lief, gibt es aber doch berechtigte Zweifel daran, dass diese Formation dauerhaft beim FC St. Pauli gespielt werden wird. Denn es scheint so, als wenn dadurch mindestens einer von zwei „Unverzichtbaren“ außen vor bleiben müsste.
Der Irvine-Hartel-Komplex
Bisher hat sich die Frage für Fabian Hürzeler noch nicht so richtig gestellt. Denn sowohl gegen Union Berlin als auch gegen den FC Lugano agierte Marcel Hartel neben Afeez Aremu auf der Doppelsechs. Was aber wird passieren, wenn Jackson Irvine nach seiner WM-Teilnahme wieder voll einsatzfähig ist? Gegen Lugano wurde er für Hartel eingewechselt, agierte später im Spiel sogar als zentraler Innenverteidiger. Je fitter Irvine wird, umso mehr wird sich aber die Frage stellen, ob Hürzeler tatsächlich auf einen der beiden verzichten kann und wird, um die bisher gespielte Formation beizubehalten.
Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders. Denn einer der drei Offensivspieler in der Startelf in den beiden Testspielen war etwas überraschend Connor Metcalfe, dessen Entwicklung immer schneller voranzuschreiten scheint. Es ist durchaus vorstellbar, dass sowohl Irvine, aber auch Hartel deutlich offensiver agieren, zum Beispiel auf der Metcalfe-Position. An Optionen und auch an Qualität mangelt es dem FC St. Pauli in diesem Mannschaftsteil jedenfalls nicht.
Fokus Umschaltverhalten
Ja, Testspiele sollte man nicht zu hoch hängen. Besonders die Endergebnisse nicht. Das Spiel gegen den FC Lugano war auf dem Papier bemerkenswert, da ein Schweizer Erstligist mit 7:2 geschlagen wurde. Aber es muss immer berücksichtigt werden, in welcher Phase der Vorbereitung die Teams sind. Und es muss berücksichtigt werden, ob da wirklich der FC Lugano auf dem Platz stand, der aktuell den 4. Rang in der heimischen Liga belegt. Im Reisebericht ist vermerkt, dass der FC Lugano viele Stammspieler schonen musste und es auch deshalb nicht so gut lief, so wurde zumindest der Trainer zitiert. Aber: Sieben der zehn Feldspieler in der Anfangsformation standen auch im letzten Meisterschaftsspiel in der Startelf. Die defensive Viererkette war gar identisch.
Und diese Viererkette wurde im ersten von vier gespielten Vierteln förmlich vom FC St. Pauli überrollt (und sah auch danach nicht wirklich sattelfester aus). Überrollt von einem stark verbesserten Pressingverhalten, bei dem viele Bälle in guten Zonen gewonnen wurden. Klar, das ist alles noch nicht feingeschliffen, aber der veränderte Fokus im Training auf Umschaltmomente (Hürzeler erklärte vor rund zwei Wochen, dass man besonders in diesem Bereich Fortschritte machen wolle) wurde in Benidorm sichtbar. Auffällig war auch, dass es dem FCSP gut und oft gelang in die Verlagerung zu kommen, den Ball also auf den ballfernen Schienenspieler zu bringen, welcher dann mit Tempo ins letzte Drittel vordringen konnte (und meist einen Mitspieler mit dabei hatte, also eine Überzahl bestand).
Sichtbar wurde aber auch, dass das Team enorm viel Laufarbeit verrichten muss, wenn die eigene erste Pressinglinie vom Gegner erfolgreich überspielt wird. Ohne einen Vollsprint zurück geht es nicht, das Team muss möglichst viele Spieler hinter den Ball bekommen. Wenn die Intensität und Quantität im Anlaufverhalten nicht dosiert wird, dann würde so ein Fußball sicher vogelwilde Spiele produzieren und besonders spielstarken Gegnern dürfte es leichter fallen gegen den FCSP erfolgreich vor das Tor zu kommen. Klar, eine Formation und Spielidee die alle Bereiche zufriedenstellend abdeckt, gibt es nicht. Einen Tod muss man sterben (diese Metapher in diesem Zusammenhang habe ich von Timo Schultz geklaut), was im schlechtesten Fall die defensiven Halbräume sein könnten. Vielversprechend ist dieser neue Ansatz mit einem starken Fokus auf das offensive Pressing aber allemal.
Stresstest gegen Gladbach
Fabian Hürzeler zeigte sich nach dem Test gegen Lugano zufrieden mit seinem Team, erzählte, wie gut Inhalte aus dem Trainingslager umgesetzt wurden. Er betonte, dass der Kader über eine sehr hohe individuelle Qualität in der Offensive verfüge und es genau deshalb wichtig sei, mehr defensive Stabilität zu erlangen (in etwa so zu verstehen: Offensiv wird immer was gehen, selbst wenn man etwas mehr den Fokus auf die Defensive legt). Diese defensive Stabilität aber „hatten wir in einer bestimmten Phase des Spiels nicht“ und genau jene Spielphasen werde es auch in der Rückrunde geben. Hürzeler identifizierte dies entsprechend als einen Bereich in dem sich das Team noch verbessern kann.
Der kommende Testspielgegner, Borussia Mönchengladbach, kommt für den FC St. Pauli daher wie gerufen. Denn das Team hat sich unter der Leitung von Daniel Farke enorm weiterentwickelt, spielt sehr ballbesitz-orientiert. Entsprechend werden die Fohlen den Finger schon sehr genau in die vermeintlichen Wunden des FCSP legen, werden austesten, wie erfolgreich das aktivere Pressingverhalten ist, wie schnell das defensive Umschalten gelingt und ob dabei die Löcher in den defensiven Halbräumen geschlossen werden können.
Es tut sich was beim FC St. Pauli im spieltaktischen Bereich. Das ist sehr erfrischend. Ob es aber auch die dringend benötigte Balance mit sich bringt, muss sich in den kommenden Testspielen zeigen.
In den nächsten Wochen bis zum Rückrundenauftakt dürfte sich noch einiges verändern im taktischen Bereich. Weitere Veränderungen sind auch in der personellen Zusammensetzung des Kaders zu erwarten – was wir dann in einem separaten Artikel genauer beleuchten werden…
// Tim
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Aus den ersten Auftritten macht Hürzeler n echt guten Eindruck! Scheint n Plan zu haben, tritt wesentlich aggressiver und dominanter als Schulle auf und ich verstehe so langsam was der Verein in ihm sieht, dass er in Schultz nicht gesehen. Ob das zu Erfolg führen wird, mal sehen. Aber ich kann’s mir schon vorstellen!
Auf ne gute Rückrunde
Danke für deine wiedermal interessanten Punkte. Wie schätzt du die Option ein, die beiden Sechser mit Hartel und Irvine zu besetzen?
Grundsätzlich halte ich das auch für denkbar. Wenn ich aber entscheiden müsste, ob ich auf Connor Metcalfe in der Offensive oder Afeez Aremu in der Defensive verzichten müsste, dann würde ich momentan an Aremu festhalten. Da beide, Aremu und Metcalfe, sich aber ziemlich rasant verbessern, halte ich das echt nur für eine Momentaufnahme.
Was mich etwas wundert ist die fehlende Rolle für Eggestein in diesem System. Das ist doch ein Spieler mit sehr guten Abschlussqualitäten, auf die wir eigentlich nicht verzichten sollten, und ebenso starken Schwächen, dh er muss in die Box gebracht werden, idealerweise neben einem Zielspieler, um den er herumspielen kann. Darum hätte ich eher vermutet, dass es bei einem Spielsystem mit zwei Stürmern bleibt. Nun genau das Gegenteil.
Yes, strikers are obviously sacrificed in this sytem. There is need for only one, and he will be a target man, which means Otto or Maurides. It’s actually understandable since striker efficiency has been one of the issues so far.
What is flexible in this system is that the two other attacking positions can be filled with a winger, or a central midfielder, or an attacking midfielder. A striker like Eggestein ? less so. The best striker so far will probably be the one that loses much, here.
The counterpressing is new, it already works well, which is tactically impressive, and it adds another weapon to the offensive repertoire.
Yet, the defensive behavior against Lugano has been terrible many times. In many occurences, it took only two or three passes to lose the ball in a very dangerous situation. St Pauli could have scored many more goals, but they could have also conceded many more.
It’s a good thing that the coach acknowledges that there is room for improvement here. What is concerning is that offensive behaviour (which was already a strength) has improved, but defensive behaviour has not (far from it), and this was the weakness, not the other way around.