Der FC St. Pauli gewinnt verdient mit 2:1 gegen Arminia Bielefeld, muss sich aber vorwerfen lassen, das Spiel am Ende unnötig spannend gemacht zu haben. Die Analyse.
(Titelbild: Peter Böhmer)
Spiel Eins nach der Derbyniederlage hatte vor Anpfiff dann doch so seine Probleme auf den Rängen Spieltagsstimmung zu entfachen. Doch nach Abpfiff war es eher umgekehrt – unzählige Male, aber sicher nicht oft genug, habe ich mir das Video nach Spielende angeschaut. Gab es je eine solche Passform, wie die zwischen Jackson Irvine und dem FC St. Pauli?
Die Aufstellung
Ich habe mich ein wenig zu sehr von Hürzelers Aussage „ich erwarte Bielefeld tiefstehend“ (auch wenn es mich gewundert hat) mitreißen lassen und darauf getippt, dass der FC St. Pauli mit einem 4-4-2 starten würde, so wie es erfolgreich gegen Braunschweig praktiziert wurde. Keine Ahnung, ob das eine Nebelkerze war oder nicht, aber der FCSP stellte sich dann doch in gewohnter Formation, einem 5-2-3, auf.
Allerdings gab es dabei personelle Veränderungen im Vergleich zur Niederlage beim HSV: Der gelbgesperrte Eric Smith wurde durch Adam Dźwigała ersetzt, der auf die Position des rechten Innenverteidigers rückte. Auch Afeez Aremu musste weichen. Elias Saad feierte dafür sein Startelfdebüt, kam aber natürlich nicht auf der Sechs wie Aremu, sondern auf dem linken Flügel zum Einsatz. Damit war Dapo Afolayan auch wieder auf der rechten Seite zu finden.
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Eine gute Nachricht gab es aus Sicht von Arminia Bielefeld: Masaya Okugawa wurde rechtzeitig fit und stand entsprechend auch in der Startelf. Im Vergleich zum letzten Spiel änderte sich das Personal auf zwei Positionen: Der gesperrte Marc Rzatkowski wurde durch Sebastian Vasiliadis ersetzt. Dieser Wechsel war mehr oder weniger positionsgetreu. Der Wechsel von Jomaine Consbruch hin zu Andrés Andrade hingegen bedeutete eine Umstellung. Arminia Bielefeld agierte nicht wie zuletzt in einem 4-3-3, sondern genauso wie der FCSP mit einer Fünferkette. Oder auch nicht, wie sich später in der Analyse zeigt…
FCSP zwingt Bielefeld in Fünferkette
Ins Spiel stieg der FC St. Pauli sehr dominant ein (daran sollte sich bis zur letzten Viertelstunde nur recht wenig ändern). Bei eigenem Ballbesitz fielen die Bielefelder in ein 5-2-3, je tiefer sie standen umso eher wurde es ein 5-4-1, welches aber in der ersten Halbzeit sehr flexibel interpretiert wurde. Diesen letzten Satz habe ich während des Spiels geschrieben. Im Anschluss an die Partie auf der Pressekonferenz erzählte Bielefeld-Trainer Uwe Koschinat (der trotz der Situation sehr offen, brutal ehrlich und angenehm berichtete), warum es zwar so aussah, aber eigentlich nicht geplant war mit einer Fünferkette zu spielen:
„Aufgrund unserer extremen Passivität und der ganz geringen Ballbesitzzeiten haben wir es nie geschafft Bastian Oczipka in eine höhere Positionierung zu bringen. Man kann schon verstehen, dass eine Abwehrreihe unter Dauerstress versucht die Räume maximal zu schließen und sich dann einen Spieler wie Oczipka näher heranholt. Es war dann eine mannschaftstechnische Anpassung, weil wir keine Ballbesitzphasen hatten, also gar nicht in die Struktur kommen konnten, die wir uns vorgenommen hatten.“
Uwe Koschinat erklärt, warum die Bielefelder Formation nach einer Fünferkette aussah
Maximal dominantes 0:0
Bei Ballbesitz zeigte der FC St. Pauli erneut mehrere Positionsverschiebungen: Leart Paqarada, noch mehr aber Manos Saliakas auf der Gegenseite schoben oft sehr hoch (und zwangen Bielefeld damit in eine Fünferkette). Marcel Hartel schob aus der Sechserposition häufig auf die Außenbahnen, etwas öfter als sonst nicht nur auf die linke, sondern ab und an auch auf die rechte Seite. Jackson Irvine hielt seine Sechserposition konsequent, es sei denn die Arminia wurde zu tief, dann löste er auch häufig auf. Ein neues Element des FCSP-Positionsspiels waren die Bewegungen von Adam Dźwigała, der immer wieder in den Sechserraum vorschob und dadurch die Seitenbewegungen von Hartel ausglich.
Interessant ist, dass der FCSP sehr dominant agierte und Fabian Hürzeler mit dieser Spielweise auch sehr zufrieden war, das Positionsspiel aber gar nicht ganz so geplant gewesen ist. Zwar wollte der FCSP die letzte Kette der Bielefelder „sehr hoch binden“, wie Hürzeler nach dem Spiel erklärte, aber besonders Saliakas war „zu hoch in der ersten Halbzeit, was uns in der Position nicht geholfen hat, weil wir den Halbraum nicht besetzt haben wo wir hinkommen wollten“. Bevor das aber falsch verstanden wird: Hürzeler betonte, dass er mit der Leistung von Saliakas sehr zufrieden war (und das möchte ich doppelt und dreifach unterstreichen). Er leuchtet in der Rückrunde unter vielen sehr leistungsstarken Spielern beim FCSP besonders hell.
Der FC St. Pauli hatte also alles im Griff, ließ auch nahezu keine gefährlichen Bielefelder Umschaltmomente zu, was angesichts der hohen individuellen Klasse der Arminia bemerkenswert ist. Das hat natürlich auch seinen Ursprung im bissigen Gegenpressing und der guten Konterabsicherung des FCSP, aber lag auch an der Spielweise, die Bielefeld dagegensetzte. Koschinat dazu: „Wir haben in der ersten Halbzeit keine Punkte verdient gehabt, sind entgegen unserer Idee in eine völlige Passivität verfallen und haben immer nur Pässe gespielt, die hervorragende Pressingmomente für den Gegner waren.“
Es war ein einseitiges Spiel in den ersten 45 Minuten, womöglich so einseitig wie noch nie in dieser Saison bei Spielen des FC St. Pauli. Das lag zum einen an dem sehr guten Ballbesitzspiel des FCSP. Dem Team gelang es durch kluges und wohl kontrolliertes Positionsspiel den Bielefeldern den Zugriff auf das Spiel komplett zu verwehren, in den Halbräumen Überzahlen zu schaffen und sich selbst dadurch einige Torchancen zu erspielen. Nach 35 Minuten standen 75% Ballbesitz und 11:0 Torschüsse zu Buche und man musste nach 45 Minuten dem Team schon einen sehr scharfen Vorwurf machen, dass es sich nicht eine mehrere Tore hohe Führung erspielt hatte.
„Mut der Verzweiflung“ führt zu Ausgeglichenheit
Im zweiten Abschnitt musste also aus Bielefelder Sicht etwas passieren. Und das Team zeigte eine Reaktion auf die aus ihrer Sicht indiskutable Leistung in der ersten Halbzeit und lief den FC St. Pauli nun sehr viel aktiver an und hatte dadurch auch mehr Spielanteile. Das bedeutete, dass ich mir während des Spiels dann auch die Notiz „Rolle Oczipka?“ machte, weil er aus meiner Sicht für einen Flügelverteidiger etwas komisch im Halbraum agierte. Aber er war trotzdem bis zum Bielefelder Doppelwechsel in der 61. Minute weiterhin meist links hinten zu finden, sodass ich der Notiz keine weitere Beachtung schenkte.
Mehr Beachtung fand hingegen, dass das Spiel durch das höhere Anlaufen der Bielefelder also etwas wilder und dadurch ausgeglichener wurde. Trotzdem war der FCSP weiterhin das spieldominante Team – und konnte sich das nun auch endlich in Form von Toren auszahlen. Das 1:0 ist dann aber tatsächlich ein Beispiel dafür, warum die Bielefelder eben nicht so aktiv und aggressiv pressen wollten (Koschinat: „Es ist schon bitter, dass wir durch diese Veränderung das 0:1 gefressen haben“): Dźwigała spielte aus dem Sechserraum zurück zu Paqarada, der seine Position gen Mitte aufgelöst hatte. Die Arminia stand brutal hoch und hinten zu viert gegen vier FCSP-Spieler. Innenverteidiger Jäkel schob sogar noch etwas vor beim Rückpass von Dźwigała, der Fuchs Hartel sah diesen Raum, startete hinter Jäkel in die Tiefe und Paqarada spielte einen perfekten Ball in den Lauf, den Hartel dann mit dem ersten Kontakt richtig stark mitgenommen hat und gekonnt versenkte – ein toller Treffer!
In der Folge hatte der FC St. Pauli weiter Chancen fast im Minutentakt. Aber Stück für Stück wurde auch Arminia Bielefeld gefährlicher. Der erste nennenswerte Abschluss des Teams kam von Bryan Lasme in der 62. Minute. Kurz zuvor hatte das Team mit der Einwechslung von eben Lasme und Consbruch für Andrade und Vasiliadis auf eine Art 4-1-3-2 umgestellt, wurde damit noch risikoreicher und offensiver.
Doch bevor sich das Verhalten der Bielefelder auszahlte, fiel die vermeintliche Entscheidung. Zu einem Zeitpunkt, als das Spiel bereits ausgeglichener war: Lukas Daschner erzielte im Anschluss an einen Standard das 2:0. Es war eine von vielen Standardsituationen, dem FCSP wurden insgesamt 20 Freistöße aufgrund von Bielefelder Vergehen zugesprochen. Doch fast postwendend kam Bielefeld durch Consbruch zum Anschlusstreffer und danach erlebten wir ein anderes Fußballspiel.
20 Minuten, die nachdenklich machen
Ja, Arminia Bielefeld ist sehr stark in der Offensive. Die individuelle Qualität ist einfach enorm hoch mit Spielern wie Robin Hack, Fabian Klos, Masaya Okugawa und dann bringst Du nach ner Stunde Bryan Lasme, der nicht nur ein Schrank (1,94m), sondern nebenbei auch noch der viertschnellste Spieler der Liga ist (übrigens befindet sich vom FCSP nur Etienne Amenyido unter den Top90). Angesichts dieser Stärken, ist die Leistung, die der FCSP in den ersten 60 Minuten erbrachte kaum hoch genug anzurechnen. Denn Bielefeld hatte in dieser Phase schlicht keine nennenswerte Torchance, der FCSP hingegen genug, um das Spiel zu diesem Zeitpunkt schon längst entschieden zu haben.
Stattdessen kam der FC St. Pauli in den letzten 20 Minuten ordentlich ins Schwimmen. Ob der Grund dafür einzig die Bielefelder Umstellung war, ist nur ganz schwer zu sagen. Der FCSP nutzte halt auch überhaupt nicht mehr die Räume, die sich durch die Umstellung noch viel mehr als vorher boten. Arminia Bielefeld hingegen spielte plötzlich groß auf, wohl auch mit dem „Mut der Verzweiflung“, wie Koschinat es nannte. Es ist dann vielleicht zum Teil einfach auch die natürliche Dynamik eines Fußballspiels, in dem ein Team zum Anschluss kommt und plötzlich Morgenluft wittert. Und trotzdem sollte man beim FCSP in der Analyse dieses Sieges ganz genau schauen, was da zum Ende hin passiert ist (was Fabian Hürzeler auch so ankündigte).
Der Derbyfluch?
Eigentlich hatte ich entschieden nicht mehr zu rechnen, nur noch auf „den Prozess“ zu schauen, wie Fabian Hürzeler es immer nennt. Und wenn man sich anschaut, wie der FC St. Pauli eine starke Offensive über eine Stunde komplett nicht zur Entfaltung kommen ließ und sich selbst zeitgleich eine Vielzahl an Chancen erspielte, dann kann man freudig feststellen, dass das Team einen Schritt weitergekommen sein könnte. Weil es wieder die Balance zwischen dominantem und druckvollem Offensivfußball auf der einen und guter Konterabsicherung und Defensivarbeit auf der anderen Seite gefunden hat – und das mit anderen spieltaktischen Mitteln als vorher, das Team ist also variabler geworden.
Aber nun rechne ich trotzdem, weil der scheiß HSV es einfach nicht hinbekommt oder hinbekommen will. Verlieren die Deppen in Magdeburg, war ja klar. Sechs Punkte sind es jetzt noch und nächste Woche tritt mit dem SC Paderborn ein Team im Volkspark an, welches nun ebenfalls die Rechnung aufmacht. Sicher ist: Wenn Darmstadt am Sonntag in Kiel gewinnt und der HSV nicht gegen Paderborn nächsten Freitag, dann mag es zwar die Möglichkeit für den FCSP geben noch näher an den HSV heranzurücken – aber dazu müssen sie ein Team schlagen, welches dann vor eigenem Publikum den direkten Aufstieg fix machen kann. Rechnen werde ich trotzdem – und vorsichtig Kohlen in den fast stillgelegten Hypetrain füllen. Denn es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist!
Immer weiter vor!
// Tim
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Unser Verein sollte Jackson einen Vertrag auf Lebenszeit ohne Ausstiegsklausel geben. Schon lange gab es keinen Spieler mehr so gut zu uns gepasst hat. I love it.
P.S. Danke Tim für deine Analyse. Es macht immer Spaß diese zu lesen.
Nur noch 6 Punkte zum Relegationsrang. Der Traum ist wieder da.
Immer weiter vor magisches FC St. Pauli
Ich füstere ebenfalls schon wieder ein leises „Choo-Choo“ …
Jackson Irvine fiel mir auch extrem auf gestern, viele gute, auch kleine Aktionen. Ich rechne natürlich auch wieder, aber 7 Punkte in 4 Spielen aufholen, die bräuchte es ja wegen unserer schlechteren Tordifferenz…nicht unmöglich, aber auch nicht wirklich realistisch.
Aber wir jammern ja auf hohem Niveau! Ohne Abstiegssorgen schauen, was noch geht.