„Ich will Entscheider auf dem Platz“

„Ich will Entscheider auf dem Platz“

Fabian Hürzeler hat den FC St. Pauli in die Erfolgsspur geführt. Wie er das geschafft hat, wird deutlich, wenn man seine Spielidee und seinen Führungsstil kennenlernt.
(Titelbild: Peter Boehmer)

„Ich bin jemand, der sehr gerne dazulernt. Jemand, der sich gerne freischwimmt und sich nicht lange in der Wohlfühloase aufhält. Ich will da raus. Ich will Dinge dazulernen. Ich will mich in meiner Persönlichkeit entwickeln.“
Wenn man Fabian Hürzeler zuhört, dann kauft man ihm jedes dieser Worte ab. Dann wird klar, warum ausnahmslos alle beim FC St. Pauli seit Dezember 2022, seit der Ernennung von Hürzeler zum Cheftrainer, ständig von „Lern-“ und „Entwicklungsprozessen“ sprechen. Dann ist zu verstehen, wie es ihm und seinem Team gelang, ein bisher so erfolgreiches Jahr 2023 zu spielen. Wir haben uns mit ihm über seine Arbeit als Trainer, seine Idee von Fußball und die Beziehung zu Spielern unterhalten. Und selten gebe ich eine Hör-Empfehlung mit so viel Nachdruck, wie diese. Hört Euch das Gespräch in voller Länge an.

70 Minuten mit viel mehr Inhalt

Dass der Medienrummel um seine Person zu Beginn seiner Zeit als Cheftrainer etwas ungewohnt für ihn war, merkt man in dem rund 70-minütigem Gespräch überhaupt nicht. Für MillernTon-Verhältnisse mag man sagen, dass der Podcast „nur“ 70 Minuten lang ist. Aber wohl selten, vielleicht sogar nie in der inzwischen zehnjährigen Geschichte des MillernTon, hatten wir einen Gast, der so druckreif gesprochen hat wie Fabian Hürzeler. Kein Gelaber, kein Ausweichen, keine Plattitüden – und im Verlauf des Gesprächs wurde deutlich, wie gut diese pointierte Sprache von Hürzeler zu ihm als Trainer passt.

Allein die Art und Weise, wie Fabian Hürzeler über ein Detail des Cheftrainerdaseins spricht, zeigt, wie detailversessen er arbeitet. Denn zur Arbeit mit den Medien sagte er: „Es ist sehr wichtig, wie du dich vor den Medien gibst. Dementsprechend reflektiere ich mich da auch sehr gerne. Weil ich glaube, dass es wichtig ist, wie du wirkst, was du von dir gibst, wie du dich selbst darstellst und wie du es schaffst, deine Mannschaft gut dastehen zu lassen.“

Spielidee klar, Umsetzung spielerabhängig

Womöglich haben diese Medienauftritte ihren Teil dazu beigetragen, doch auch unabhängig davon steht seine Mannschaft aktuell sehr gut da. Und man kommt nicht umhin dies massiv auf die Spielidee des 30-jährigen zu schieben. Seine Leitlinie: „Ich möchte mit dem FC St. Pauli einen aktiven, einen dominanten Fußball spielen, bei dem wir nicht auf den Gegner reagieren müssen.“
Diese „Leitlinie“ ist wichtig, weil Hürzeler gerne mit Ball denkt, den Ball auch gerne hat, damit „ich dem Gegner meine Ideen aufdrücken kann.“

Die schwerste Aufgabe im Fußball sei es, „Lösungen gegen hoch und mannorientiert pressende oder tief stehende Mannschaften zu finden.“ Und genau das formuliert Hürzeler als seinen Anspruch: „Dass ich es mit meiner Mannschaft schaffe genau gegen diese Mittel des Gegners Lösungen zu finden.“
Kategorisch ausgeschlossen wird der Stil mit einem Fokus auf lange und zweite Bälle. Denn auch wenn dieser Stil ein effektives Mittel sein mag, erklärt Hürzeler: „Für mich ist das zu viel Zufall“ und erklärt auch, dass dieser Stil für die Spielerentwicklung nicht förderlich sei: „Ich bin überzeugt, dass sich Spieler nicht entwickeln, wenn sie viel zufallsbasierten Fußball spielen, sondern, wenn sie es schaffen, Lösungen am Boden zu finden und auch Fehler machen. Denn der Mensch lernt, wenn er Fehler macht.“

Hamburg, Deutschland, 12.02.2023 - Fabian Hürzeler, Cheftrainer des FC St. Pauli, gibt Anweisungen beim Spiel gegen den 1. FC Kaiserslautern - Copyright: Stefan Groenveld
Fabian Hürzeler setzt bei der Umsetzung seiner Spielidee auf ein hohes Maß an Eigenverantwortung.
(c) Stefan Groenveld

„Spieler spielen die Räume, nicht die Positionen“

Seine Spielidee werde immer gleich sein. Die Umsetzung aber hänge auch von den Spielertypen ab: „Es ist wichtig, was für Spieler Du hast. Wo und in welchen Räumen fühlen sie sich wohl, wo sind ihre Stärken? Das musst Du mit den Spielern zusammen erarbeiten.“ Ganz praktisch lässt sich das zum Beispiel an der Fünferkette beim FCSP erkennen. Die basiere nämlich unter anderem darauf, dass sich Eric Smith dort wohler fühlt, als dauerhaft im defensiven Mittelfeld zu agieren.

Dieser Spielstil, den Fabian Hürzeler zusammen mit seinem Team entwickelt hat, ist einer der modernsten im europäischen Fußball (Der Hürzeler-Fußball). Er basiert im Offensivspiel auch darauf, dass die Positionierungen der Spieler sehr fluide werden. Diese Art von Fußball sieht Hürzeler, abgesehen von Leverkusen und Stuttgart, selten in Fußball-Deutschland. Und sie folgt einem simplen, aber gleichzeitig komplexen Grundsatz: „Die Spieler spielen die Räume und nicht die Positionen. Es gibt Räume, die bei uns besetzt sein müssen. Aber wer das macht, ist mir letztendlich egal.“
Allein für diese Aussage, für die erste wirklich erhellende Erklärung, welches Prinzip hinter diesen unzähligen Positionsrochaden im Offensivsspiel des FC St. Pauli unter Hürzeler steckt, hat sich der gesamte Podcast gelohnt.

„Trainieren wollen oder trainieren lassen“

Dieser Grundsatz erklärt auch, warum Fabian Hürzeler kein großes Geheimnis aus seiner Spielidee macht, sich gerne mit anderen Fachleuten austauscht. Denn er beinhaltet auch, dass Hürzeler teils selbst nicht vorhersehen kann, was genau das Team auf dem Platz macht. Auch deshalb ist dieser Spielstil für ihn „nicht kopierbar,“ denn dazu „brauchst Du auch die Spieler und die richtigen Gedanken im Training, weil das Training der Transfer für die Umsetzung ist.“

Im Sommer betonte Fabian Hürzeler in Bezug auf mögliche Neuzugänge oft, dass diese „auch menschlich passen müssen.“ Was er damit unter anderem meinte, wird im Podcast deutlich: „Wir haben ein klares Motto: Will der Spieler selbst trainieren oder will er sich trainieren lassen? Wenn er sich trainieren lassen will, dann ist er falsch beim FC St. Pauli beziehungsweise bei mir.“ Diese „intrinsische Motivation“ – Fabian Hürzeler benutzt dieses Wort oft – bringen viele Spieler mit, seien es leuchtende Beispiele wie Johannes Eggestein oder Lars Ritzka, die sich mit viel Eigeninitiative Spielzeit erarbeitet haben oder aber Spieler, die sich morgens an einem freien Tag mit Spielszenen beim Trainerteam melden und fragen, ob und wie man besser hätte spielen können.

Dass Spieler ganz generell unterschiedliche Bedürfnisse haben, auch im Umgang mit dem Trainer, fasst Hürzeler wie folgt zusammen: „Es ist wichtig, dass Du alle Spieler fair behandelst, aber Du kannst sie nicht gleich behandeln.“ So habe der dreißigjährige zu seinen Führungsspielern – Hürzeler zählt da Hartel, Irvine, Wahl, Mets und Smith auf – einen besonders guten Draht. Allgemein werden in Gesprächen mit einigen Spielern teilweise auch private Dinge geteilt.

Hamburg, Deutschland, 05.08.2023, Fussball, 2. Bundesliga - Fabian Hürzeler und Peter Nemeth, das Trainerteam des FC St. Pauli - Copyright: Stefan Groenveld
Nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz setzt Fabian Hürzeler auf die Eigenverantwortung seiner Mitarbeiter. Mit Erfolg, wie viele Tore nach Standardsituationen zeigen.
(c) Stefan Groenveld

„Fan von Eigenverantwortung“

Es ist interessant, dass Fabian Hürzeler auf eine relativ klare Hierachie im Team-Gefüge setzt. Er erklärt, dass er auch während der Spiele vornehmlich mit seinen Führungsspielern kommuniziert und schätzt den Einfluss von Trainern während der Spiele als ziemlich hoch ein („höher als viele denken“). Es ist interessant, dass jemand wie Hürzeler, der als besonders akribisch gilt und nach eigener Aussage auch perfektionistisch ist, den Spielern dann aber viele Dinge selbst überlässt. Zum Coaching während der Spiele erklärt er: „Ich gebe den Spielern Informationen mit, Dinge, die wir sehen, die eine Hilfestellung sind. Aber was sie davon umsetzen, was sie weitergeben an ihre Mitspieler, das bleibt ihnen überlassen.“

Aber natürlich verlässt man sich dabei nicht einfach auf die Kompetenzen der Spieler in Sachen Analyse. Vielmehr, so erklärt es der dreißigjährige Cheftrainer, fördere man die Eigenständigkeit der Spieler, übergibt ihnen (wie auch allen anderen Staff-Mitgliedern) ein hohes Maß an Eigenständigkeit: „Ich bin ein Fan von Eigenverantwortung. Davon, dass die Spieler eigenverantwortlich auf dem Platz entscheiden dürfen, aber genauso auch neben dem Platz Verantwortung übernehmen.“

„Keine Ja-Sager, ich will Leader!“

Einen identischen Ansatz hat Fabian Hürzeler auch mit seinem Staff. Auch in der Zusammenarbeit mit seinen Co-Trainern, Analysten und weiteren Staff-Mitgliedern setzt er auf Vertrauen und Eigenverantwortung. Auch deshalb, weil ihm das als Co-Trainer gutgetan habe. Er erklärt: „Ich will keine Ja-Sager neben mir haben, ich will Leader. Ich will, dass sie neben mir wachsen. Das schaffst du nicht, wenn du alles bestimmst. Das schaffst du nur, wenn du ihnen Freiheiten gibst, wenn du ihnen ihre Kompetenzen lässt, ihnen Wertschätzung gibst. (…) Jeder Mensch macht Fehler, ich treffe auch falsche Entscheidungen. Aber wir reflektieren sie gemeinsam und versuchen als Team zu wachsen.“

Wer Fabian Hürzeler zuhört – und ich möchte an dieser Stelle nochmal allen empfehlen, das zu tun und den Podcast zu hören – bekommt eine Idee davon, warum es beim FCSP gerade so gut funktioniert. Eine hochmoderne Idee von Fußball, eine hohe Erwartungshaltung an die Spieler, allerdings in einer Umgebung, die ihre Spielkompetenz fördert. Und das gepaart mit einer Person als Cheftrainer, die präzise und gleichzeitig mitreißend redet. Es hätte diesen Podcast mit ihm nicht dafür gebraucht, aber trotzdem wurde einmal mehr klar, dass der FC St. Pauli eines seiner größten Talente neben dem Platz hat.

// Tim

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5 thoughts on “„Ich will Entscheider auf dem Platz“

  1. Danke Tim, für diesen und alle anderen Artikel auf dieser Plattform. Ich bin – wie viele wahrscheinlich deiner Meinung – dass unser Chef-Trainer ein Geschenk für den Club ist, auch wenn ich dies beim Trainerwechsel im Winter noch anders sah. Fabian Hürzeler ist ein Kind der Aufklärung, jemand der die Dinge verbessern will. Und dies auch tut. Allein schon die Pressekonferenzen vor dem Spiel sind ein Genuß, offenbaren sie doch viel auch von seiner Philosophie. Ich hoffe sehr, dass er noch lange Zeit die Spieler mit seiner Spielidee erreicht. Und wir das Glück haben, den FCSP einen schönen und erfolgreichen Fußball spielen zu sehen.

    1. Moin osvaldopiazzolla,
      you can play the podcast on youtube and select the option translate in the subtitle settings. That way you can at least read the conversation.

  2. Diesen Trainer muss mensch einfach ins Herz geschlossen haben!!

    Danke Tim, danke Sven, danke Fabian, das waren ganz wundervolle 70 Minuten, ich hätte euch noch stundenlang zuhören können.

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