Weg mit dem Scheiß-System?

Weg mit dem Scheiß-System?

Es läuft nicht rund beim FC St. Pauli. Ein Grund dafür scheint die bessere Anpassung der Gegner an das 4-4-2 mit Mittelfeldraute zu sein. Daher stellt sich die Frage, ob es nur Feinheiten sind, die im System angepasst werden müssen oder ob sogar ein Systemwechsel denkbar ist.
(Titelbild: Peter Böhmer)

Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es eine Konstante beim FC St. Pauli: Egal welche Spieler sich auf dem Platz befinden, es wird nur in ganz seltenen Fällen (wie z. B. am Ende des Regensburg-Spiels) von der Formation mit der Mittelfeldraute abgewichen. Dieses 4-4-2 hat sich zu so etwas wie einem Markenzeichen des Teams entwickelt, so wie es damals unter Ewald Lienen ein sehr destruktives 4-2-3-1 spielte.

Was lange Zeit gut funktionierte, scheint nun langsam aber sicher an seine Grenzen zu kommen. Viele Gegner können die zuvor bärenstarke Offensive immer besser stoppen, wenn sie z.B. mit einer Dreierkette agieren. Aber warum genau klappt das eigentlich mit einer Dreierkette so gut? Und was könnte der FCSP mit seiner Raute besser machen? Oder ist vielleicht sogar ein Systemwechsel die beste Entscheidung?

Die Vorteile der Mittelfeldraute

Ich hatte das schon einmal stichwortartig vor ein paar Wochen dargestellt, möchte nun aber noch etwas tiefer ins Detail gehen, um herauszuarbeiten, wo genau die aktuellen Probleme des FC St. Pauli mit dieser Formation gegen eine Dreierkette stecken und was besser laufen kann/muss. Dazu mache ich es aber anders als im oben verlinkten Text und stelle dar, welche Kernaufgaben ein Team gegen eine Mittelfeldraute lösen muss (nein, damit gebe ich künftigen Gegnern keinen Guide an die Hand. Den brauchen die nicht mehr).

  1. Überzahl im Zentrum
    Der größte Vorteil einer Mittelfeldraute ist, dass es eigentlich immer eine Überzahl im Zentrum gibt bzw. die Gegner darauf reagieren müssen. Gleich vier Spieler gibt es im zentralen Mittelfeld, also in dem Bereich, wo Pässe und freie Gegenspieler definitiv verhindert werden müssen. Das stellt alle Gegner erstmal vor eine Aufgabe und erzwingt immer eine Reaktion von ihnen.
  2. Zwei Stürmer
    Seit gut zehn Jahren ist der Weltfußball davon teilweise abgewichen, mit mindestens zwei Stürmern zu spielen. Formationen wie das 4-2-3-1 oder das 4-3-3 setzen vielmehr auf offensive Außenbahnspieler und im Zentrum blieb somit meist nur ein Spieler übrig. Inzwischen sind aber viele Teams wieder zu Systemen mit zwei Spitzen zurückgekehrt. Der Vorteil ist, dass zwei Stürmer auch mindestens zwei Verteidiger beschäftigen. Mindestens deshalb, da zwei Stürmer bei guten Bewegungen im Raum nicht nur die Innen-, sondern auch die Außenverteidiger und den/die gegnerischen Sechser beschäftigen können. Auch darauf müssen gegnerische Teams eine Reaktion zeigen.
    Im nächsten Schritt sind es dann übrigens die nachrückenden Achter und der Zehner, die der Verteidigung Probleme bereiten und auf die ebenfalls eine Reaktion gezeigt werden muss.
  3. Außenverteidiger/Innenverteidiger als Aufbauspieler
    Die dritte Kernaufgabe ist dann schon ein Produkt der Reaktion auf die ersten beiden Kernaufgaben. Denn viele gegnerische Spieler im Mittelfeldzentrum und zwei Stürmer führen meist automatisch dazu, dass den gegnerischen Außenverteidigern und auch Innenverteidigern viel Raum zugestanden wird. Das ist, besonders im Fall der linken Seite des FC St. Pauli, eine nicht so gute Sache. Daher müssen Gegner auch gegen aufbaustarke Verteidiger eine Lösung finden.

Warum eine Dreierkette die Mittelfeldraute so gut aufnimmt

Fortuna Düsseldorf machte es, Holstein Kiel auch, dann Erzgebirge Aue, Regensburg probierte es und Hannover 96 hatte damit großen Erfolg: Die richtige Reaktion auf den FC St. Pauli mit seiner Mittelfeldraute lautet 3er-Kette. All die aufgezählten Teams sind mit der Formation im Spiel gegen den FCSP sogar extra von ihren angestammten Formationen abgewichen. Die Trainer und Analysten dort haben also sehr große Vorteile dieser Formation ausgemacht, sodass sie extra umstellten.

Theoretische Vorteile einer Formation mit Dreierkette gegenüber einem 4-4-2 mit Mittelfeldraute.
Theoretische Vorteile einer Formation mit Dreierkette gegenüber einem 4-4-2 mit Mittelfeldraute.

Ein System mit einer Dreierkette bietet gegen eine Mittelfeldraute einige Vorteile. In vorderster Reihe können zwei Stürmer die beiden Innenverteidiger und den Sechser relativ gut kontrollieren, indem sie die vertikalen Passoptionen für die Innenverteidiger zustellen und auch den Sechser in den Deckungsschatten nehmen.
Das zentrale Mittelfeld kann durch starke Mannorientierung zumindest im ersten Schritt neutralisiert werden (die Reaktion der Rautenspieler auf diese Mannorientierung ist mitentscheidend über Erfolg und Misserfolg des „Rauten“-Teams).
Die hintere Dreierkette hat weniger Probleme mit zwei Stürmern umzugehen, da sie nominell eine Überzahl haben. Hierdurch kann auch die Breite (zusammen mit einem weiteren Spieler) gut abgedeckt werden und es ist schwerer für die beiden Stürmer Räume zu erschaffen und zu bespielen.
Das wichtigste Element eines System mit einer Dreierkette gegen eine Mittelfeldraute, sind aber die beiden Flügelverteidiger. Diese haben meist die Aufgabe die gegnerischen Außenverteidiger anzulaufen, wenn sich der Ball auf ihrer Seite befindet. Der Flügelverteidiger auf der ballfernen Seite lässt sich dann in die Dreierkette zurückfallen. Es bildet sich somit eine Viererkette in der Abwehr, welche dann noch besser die Breite abdecken und ggf. auch auf einrückende gegnerische Mittelfeldspieler reagieren kann.

Ein 3-5-2 bietet also viele Vorteile im Spiel gegen eine Mittelfeldraute. Das liegt auch daran, dass der zentrale Nachteil dieser Formation (Unterzahl auf den Außenbahnen) identisch ist mit dem der Raute und somit keiner mehr ist.
Gegen genau so eine Formation, die von den jeweiligen Gegnern immer etwas anders, aber in den Grundzügen gleich gespielt wurde, hat der FC St. Pauli ziemliche Mühe. Aber welche Möglichkeiten gibt es in der Offensive, um auch gegen eine Dreierkette erfolgreich zu sein?

Es gibt viel zu besprechen, um gegen eine Dreierkette erolgreich zu sein.
(c) Peter Böhmer

Was kann der FC St. Pauli tun?

Ganz grob zusammengefasst gibt es drei Möglichkeiten, um im Fußball erfolgreich zu sein. Diese sind insbesondere auch für den FCSP mit einer Mittelfeldraute gegen eine Dreierkette gültig:

  1. Überzahl in den Halbräumen schaffen
    Wie ich bereits schrieb, ist die Reaktion auf die starke Mannorientierung im Mittelfeld einer der entscheidenen Faktoren. Für die Spieler auf den Halbpositionen gibt es mehrere Möglichkeiten, um sich ihrer Gegenspieler zu entledigen. Zum einen, das macht Marcel Hartel sehr gerne, können sich die Spieler durch Laufwege in für den Gegenspieler unangenehme Räume lösen, zum Beispiel ganz auf die Außenbahn oder näher zum eigenen Tor. Zum anderen ist auch eine Überladung eines Halbraumes möglich, indem sich der Zehner oder der ballferne Achter mit in den ballnahen Achterraum bewegt. Das ist gerade in den Heimspielen im Herbst sehr gut gelungen.
  2. Gegnerische Abwehrreihe in Bewegung bringen
    Klingt einfach, ist es aber nicht. In starrer Aufstellung hat der Gegner eine Überzahl in der Defensive. Wenn aber die Stürmer in Bewegung kommen, müssen auch die Abwehrspieler darauf reagieren. Eine Möglichkeit ist es immer „hinter die Außenverteidiger“ zu kommen, also in den Raum zwischen den äußeren Innen- und Flügelverteidigern. Das hat z.B. Guido Burgstaller richtig gut im Spiel gegen Schalke 04 gemacht. Eine weitere Möglichkeit für ordentlich Verwirrung zu sorgen, ist das Einrücken von weiteren Spielern in diesen Bereich. Das bedeutet, dass der Zehner oder die beiden Achter aus der Mittelfeldraute mit in die Spitze schieben. Gerade diese Bewegung ist das größte Gift für eine Dreierkette, da niemand diese Spieler so wirklich aufnehmen kann bzw. die Zuordnung geklärt werden muss. Der beste Mechanismus, um die gegnerische Abwehrreihe in Bewegung zu bringen ist aber Punkt drei:
  3. Auf den ballfernen Außenverteidiger verlagern
    Das ist tatsächlich die größte Waffe, die eine Viererkette gegen eine Dreierkette hat. Denn, wie beschrieben, lässt sich der ballferne Flügelverteidiger immer in die hintere Kette fallen (muss er, da sonst Guido den Raum besetzt, siehe Schalke). Dadurch ist der ballferne Außenverteidiger frei. Also wirklich richtig frei, wenn es das eigene Team schnell macht. „In die Verlagerung kommen“ ist dann auch immer das, was Timo Schultz besonders wichtig ist. Ziel ist es daher, das Spiel auf eine Seite zu lenken und dann schnellstmöglich, bestenfalls nur über eine Relais-Station, auf die andere Seite zu kommen. Dann gibt es nämlich richtig Platz für den Außenverteidiger und der Gegner ist in Bewegung.

Offensiv sind all diese Ansätze beim FC St. Pauli immer wieder zu erkennen. Besonders der letzte Punkt wurde jedoch z.B. gegen Hannover nur sehr schwach umgesetzt und im Heimspiel davor gegen Paderborn war die Raute sehr statisch, hat also keine Überzahl in den Halbräumen kreiert. Grundsätzlich ist es aber nicht ein Problem der Formation, dass der FC St. Pauli aktuell nicht so gut mit gegnerischen Dreierketten klarkommt. Es ist eher eine Frage der Feinheiten in der Umsetzung. Besonders die beiden Halbpositionen müssen sich taktisch enorm klug verhalten, um die notwendigen Räume zu erschaffen und zu bespielen. Ich würde also nicht sagen „Weg mit dem Scheiß-System!“. Aber es muss offensiv wieder sehr viel klarer gespielt werden. Dann könnte sich auch das große Problem der Rückverteidigung lösen.

Disziplin in der Rückverteidigung, zur Not flach werden

Wie schon dargestellt, ist einer der großen Nachteile der Mittelfeldraute, dass es eine natürliche Unterzahl auf den Außenbahnen gibt. Zuletzt haben es die jeweiligen Gegner immer wieder geschafft, genau dies auszunutzen. Paderborn überlud die Außenbahnen immer wieder. Regensburg brachte Flanke um Flanke aus diesen Räumen und bei Hannover haben sich die beiden Stürmern nach Ballgewinn das gesamte Spiel über immer direkt im Vollsprint auf die Außenbahn bewegt, weil es dort Räume gab.
Besonders der letzte Punkt ist eine Frage der Disziplin im Aufbauspiel. Denn es waren zu häufig beide Außenverteidiger vorne mit drin, wodurch die Rückverteidigung schlicht nicht mehr ausreichend gewährleistet werden konnte.
Beim Spiel in Regensburg hätte sicher ein gut ausgespielter Konter gereicht, um es schon vorher zu entscheiden. Die Überzahl, die Regensburg auf den Außenbahnen schaffte, war nur durch hohes Risiko möglich. Die Regensburger Abwehrreihe stand nicht selten in Unterzahl gegen die FCSP-Spieler und gut ausgespielte Konter hätten viel erfolgreicher sein können, wenn nicht sogar müssen.
Das einzige Problem, welches sich nicht durch die Mittelfeldraute lösen lässt, ist das, was der SC Paderborn am Millerntor zeigte: Die Überladung mit mindestens zwei Spielern auf der Außenbahn. Aber genau hierfür hat der FC St. Pauli seit der Winterpause das flache 4-4-2 als Defensiv Formation trainiert, bei dem die Zuordnung auf den Außenbahnen sehr viel klarer ist.

Ich bleibe also dabei: Am System als solches liegt es nicht. Es sind eher die Feinheiten, die aktuell Probleme bereiten. Der FC St. Pauli hat ein Umsetzungsproblem.

//Tim

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4 thoughts on “Weg mit dem Scheiß-System?

  1. Hallo Tim. Danke für den Superartikel.

    Eine Nachfrage zu Deiner Schlussfolgerung. Du sagst, es liege nicht am System, sondern an Feinheiten. Aber ein System ist letztlich nur so gut, wie die Spieler, die dafür zur Verfügung stehen. Und wenn ich mir nun den Kader anschaue und die wichtigen Aspekte Deiner Aufzählung der Vorteile, dann stelle ich fest:

    1.) Weder Zander noch Ohlsson sind starke Aufbauspieler auf rechts. Gegen Hannover lag das Aufbauspiel über die Seite fast komplett brach. Nicht umsonst haben viele Gegner in den letzten Monaten versucht, Paqarada anzulaufen, in dem Wissen, dass er der stärkere AV ist. Ist es gelungen ihn aus dem Spiel zu nehmen, dann hatten wir sofort große Schwierigkeiten, denn
    1b.) Auch Ziereis als IV hat seine Stärken nicht im Spielaufbau. Damit stockt unser Spiel hinten raus automatisch.
    2.) Unseren sämtlichen 8ern der ersten Wahl (Hartel, Becker, Irvine) mangelt es an Torgefahr und einem guten Abschluss. Alle drei zusammen haben bislang 5 Tore erzielt. Die zahlenmäßige Überlegenheit in den Räumen nützt nicht viel, wenn die Spieler Chancen zwar besser kreieren können, diese aber nicht verwerten, wie z.B. Zalazar letztes Jahr.
    3.) Auf der Position neben Burgstaller wird am meisten rotiert. Ein Indikator dafür, dass wir dort qualitativ ein Gefälle haben. Während letztes Jahr hier Marmoush seine Kreise zog, fehlt es hier an Konstanz bei allen Beteiligten und ich fürchte (im Moment, das kann sich mittelfristig ändern) auch an Qualität.
    4.) Unser Schwachpunkt in der Defensive heißt seit mehreren Spielen viel zu oft Smith, dessen Geschwindigkeitsdefizite und teils naives Zweikampfverhalten (siehe z.B. das 0:1 gegen Hannover) sich die Gegner zu oft zunutze machen. Im Verbund mit Zander und Becker auf der rechten Seite sah das ab der 35. Minute überhaupt nicht gut aus.

    All diese Problemfelder sind im 442 Raute an das Personal geknüpft (mit Ausnahme Smith, der durch Aremu ersetzt werden kann). Wenn es also so ist, dass die Vorteile des Systems nicht richtig gut genutzt werden können, weil die Spieler dafür fehlen, ist ein Systemwechsel nicht eigentlich die logischere Schlussfolgerung?

    Denn weder wird Zander von heute auf morgen den Spielaufbau von Paqarada beherrschen, noch wird Smith schneller, noch Hartel oder Irvine abschlussstärker.

    1. 1. Danke an Tim fürs Zitat „Weg mit dem…“ 🙂
      2. Da das ja nun schon wieder losgeht mit der Verletzungsseuche -Ohlsson- und beim Training ja offensichtlich leider so Einige fehlten -laut Mopo lediglich 16 (!) Spieler, erübrigt sich da nicht langsam die System-Diskussion?
      3. Ich seh da nur 2 Möglichkeiten: entweder wir schmieren jetzt ab und werden auf 10 oder wat durchgereicht inkl. der üblichen Niederlage an der alten Försterei beim ach so tollen Union, oder es entsteht sowas wie ne „Jetzt erst Recht!“- Reaktion. Wünschen tu ich mir natürlich Letzteres, realistisch befürchte ich Ersteres….

      1. Es kommt die Zeit, ohooo, in der das Wünschen wieder hilft… es kommt die Zeit, ohooo, in der Wünschen wieder hilft… ooooohohohooooohoho… in der das Wünschen wieder hilft!

    2. Moin Paul,
      ich gebe dir in allen Punkten vollkommen recht. Aber ich sehe halt auch keine andere Formation, die da besser passen würde. Eine Formation mit einer Doppel-Sechs ist denkbar, aber sobald ich weiterdenke, fehlt da mindestens ein kreativer Spieler (und jemand für die rechte Außenbahn).

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